Gastbeitrag von Gabor Steingart - Sigmar Gabriel warnt: „Wir befinden uns in einer doppelten Zwickmühle“

Sigmar Gabriel, der ehemalige SPD-Außenminister und Vizekanzler und heutige Aufsichtsrat von Siemens Energy, Deutsche Bank und Rheinmetall, sieht das Ende der globalen Ordnung wie wir sie kannten. Auf einer „Pioneer Konferenz“ warnt er davor, dass Europas Industrie ohne substanzielle Reformen in die Bedeutungslosigkeit abdriftet und fordert ein starkes politisches Zentrum.

Pioneer: Deutschland leidet erkennbar an der Gegenwart – nach der Trump-Wahl noch stärker. Zu Recht?

Sigmar Gabriel: Mit Donald Trump ist erstmals ein Präsident ins mächtigste Amt der Welt gewählt worden, der nicht nur ein Kulturrelativist ist, sondern im Kern mit den universellen Ideen des Westens für eine liberale Demokratie und eine regelbasierte internationale Ordnung erkennbar nichts anfangen kann. Und er hat überall Weggefährten: von Viktor Orbán bis Alice Weidel, von Robert Fico bis Andrej Babiš, von Herbert Kickl bis Marine Le Pen. Anders als für Bundeskanzler Scholz ist deshalb für mich die Zeitenwende nicht der Krieg in der Ukraine, sondern das Ende der globalen Ordnung, wie wir sie kannten.

Anzeige

Sigmar Gabriel: „Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtachse“

Pioneer: Das bedeutet konkret was?

Gabriel: Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtachsen. Nicht mehr der Atlantik ist das Gravitationszentrum der Welt, sondern der Pazifik. Zwei Drittel des Weltsozialprodukts werden dort hergestellt. Zwei Drittel der Menschheit leben da, und es gibt dort inzwischen fünf Nuklearmächte.

Pioneer: Und die USA haben daraus jetzt ihre Schlussfolgerung gezogen?

Gabriel: Die USA haben seit längerer Zeit den Eindruck, dass diese Veränderung ihre wirtschaftliche, technologische und militärische Führung gefährdet. Sie sehen sich „imperially overstretched“. Donald Trump ist der erste US-Präsident, der die USA konsequent als globale Ordnungsmacht aufgibt. Dieser Verlust an globaler Ordnung wird uns viel mehr herausfordern als mögliche Handelskonflikte mit den USA. Oder wie der konservative Publizist Robert Kagan sagt: The Jungle is back.

Pioneer: Was ist der Treiber der Veränderung?

Gabriel: Die dramatische Veränderung unserer Zeit ist diese: 600 Jahre europäischer Dominanz seit der Entdeckung des Seewegs nach Amerika sind zu Ende. Und die kommt auch nicht zurück. Die USA haben den Washingtoner Consensus, also den Abbau von Handelsbarrieren und Konfliktschlichtung in internationalen Organisationen, aufgekündigt. Wir leben im Zeitalter des Protektionismus und der Handelskriege – und der echten Kriege.

Wir stehen vor einer existenziellen Krise“

Pioneer: Wo bleibt Europa?

Gabriel: Wir stehen vor einer existenziellen Krise, die unsere Position in den globalen Wertschöpfungsketten und unsere geopolitische Souveränität bedroht. Praktisch alles, was in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten unseren großen Erfolg ausgemacht hat, verkehrt sich inzwischen ins Gegenteil. Die Erosion der Industrie in der EU hat sich beschleunigt. Seit 2022 ist die Industrieproduktion um sechs Prozent geschrumpft. Und das europäische verarbeitende Gewerbe schrumpft seit 28 Monaten.

Pioneer: Und Amerika steht nicht mehr zuverlässig an unserer Seite.

Gabriel: Lediglich Russland hat dazu geführt, dass die USA unter Joe Biden noch einmal an die Seite der Europäer gerückt sind, um die Ukraine zu unterstützen. Das heißt, Wladimir Putin hat die USA noch einmal zur europäischen Macht gemacht. Das wird mit den folgenden Präsidenten, egal wer nach Donald Trump folgt, nicht wieder passieren.

Pioneer: Das heißt, wir werden alleingelassen, bevor wir uns emanzipiert haben?

Gabriel: Es ist wie in jedem guten Western: Wo der Sheriff die Mainstreet verlässt, kommen die Gangster. Wo Amerika geht, versuchen autoritäre Staaten wie China, Russland, der Iran oder auch kleinere regionale Akteure den Raum zu füllen. Die einzigen, die hilflos daneben stehen und auf diese veränderte Welt schauen, sind wir in Europa. Wir werden als die letzten Vegetarier in der Welt der Fleischfresser gesehen.

„Zeitenwende bedeutet etwas anderes als 100 Milliarden für die Bundeswehr“

Pioneer: Das lässt für Europa nichts Gutes ahnen.

Gabriel: Wir befinden uns in einer doppelten Zwickmühle zwischen US-Protektionismus und Chinas Produktionsmacht. Ohne substanzielle Reformen wird der industrielle Kern der Europäischen Union von einer Stagnation in den Niedergang übergehen.

Pioneer: Wie müsste eine Reaktion der Regierung auf ihre Zeitenwende aussehen?

Gabriel: Zeitenwende bedeutet etwas anderes als 100 Milliarden für die Bundeswehr. Zeitenwende heißt, man stellt sich offensiv dieser dramatischen Veränderung der gesamten Welt, die bei uns Sicherheit und Wohlstand in nie gekanntem Maßstab in Frage stellt.

Pioneer: Jetzt zieht nachweislich aller Umfragen in genau einem Monat ein neuer Kanzler ins Kanzleramt ein. Was sollte seine Priorität sein?

Gabriel: Zuerst muss das Verhältnis von Frankreich und Polen zu Deutschland in Ordnung gebracht werden. Europa braucht wieder ein politisches Zentrum und da steht im Mittelpunkt das Bündnis des Weimarer Dreiecks. Für Deutschland, Frankreich und Europa kann man sagen: Wir brauchen eine Economy-First-Politik. Nur so sind unsere sozialen, kulturellen, militärischen und ökologischen Errungenschaften zu erhalten oder auszubauen.

Pioneer: Trump sagt America First. Ist das nicht von Vorteil für uns, dass er dadurch berechenbarer geworden ist, weil er seine Ziele klar benennt?

Gabriel: Widerspruch! Für eine Nation, deren Wohlstand zu 50 Prozent vom freien Welthandel abhängt, ist die Tatsache, dass sie weiß, dass dieser freie Welthandel nicht mehr existieren wird, keine gute Nachricht. Nirgendwo war die Integration in die internationale Arbeitsteilung so erfolgreich wie hier. Es ist nicht gut für Deutschland, wenn ein Land wie die Vereinigten Staaten sich nicht mehr für die globale Ordnung verantwortlich fühlt, nicht mehr an internationale Beziehungen glaubt und stattdessen alles bilateralisieren will.

„Trump wird versuchen, Europäer herauszubrechen“

Pioneer: Sie befürchten was?

Gabriel: Trump wird versuchen, Europäer herauszubrechen. Und das ist nicht nur Viktor Orbán, sondern er wird auch anderen Osteuropäern anbieten, besondere Beziehungen zu den USA zu bekommen. Er wird die Beziehungen zu Europa bilateralisieren. Das stärkt die Zentrifugalkräfte in Europa und gefährdet die europäische Einigung.

Pioneer: Zugleich schaut Trump nach Grönland und Kanada.

Gabriel: Ich habe einen Gegenvorschlag: Wir Europäer sollten Kanada einladen, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Die sind sowieso europäischer als mancher europäischer Mitgliedstaat. Sie sind bloß geografisch nicht in Europa. Aber dafür kann man ja Regeln schaffen. Das ist nicht undenkbar. Kanada ist ein enorm wichtiges Land. Es ist strategisch Arktis-Anrainer. Wir müssen Bündnispartner sammeln – es liegt an uns selbst, wie die Zukunft Europas aussieht.

Anzeige
 

Pioneer: Aber das Gegenteil des Einsammelns von Partnern passiert.

Gabriel: Die ersten europäischen Staats- und Regierungschefs sind ja schon nach Mar-a-Lago gepilgert, um ihm den Ring zu küssen, bevor er überhaupt im Amt war. Ich halte das für politisch hochgradig naiv, weil es dazu führt, dass Trump schon gewonnen hat bei der Spaltung der EU, bevor es überhaupt losgeht. Am Ende leben selbst die Ungarn und erst recht die Italiener von einem einigen Europa, das durch nichts ersetzt werden kann.

Pioneer: Was ist zu tun?

Gabriel: Mein Plädoyer: Ich würde das Gleiche machen, was Trump macht. Economy first. Aber eins müssen wir dazu auch sagen: Es wird anstrengend. Nicht so anstrengend, wie unsere Eltern und Großeltern es hatten, aber anstrengender als bisher. Die Arbeit beginnt zu Hause.