Raketenabwehr-Killer: Putins „Oreschnik“-Rakete bedroht Ukraine und warnt den Westen
Russland hat nur Attrappen verschossen, aber die jetzt abgefeuerte Interkontinentalrakete kann auch atomar geladen werden. Das will Putin klarstellen.
Kiew – „Die Rakete ist mit einem grundlegend neuen Kontroll- und Leitsystem ausgestattet, das auf einem einzigartigen Algorithmus basiert, der es ihr ermöglicht, gefährlichen Objekten (Antiraketen) auszuweichen und einen Kampfkurs mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit einzuschlagen“, schreibt Andrei Charuk im ukrainischen Magazin Militarnyi zu Angaben Russlands über die RS-26 „Rubesch“ – eine Modifikation dieser ballistischen Rakete soll Wladimir Putin jetzt auf die Ukraine abgefeuert haben – die Welt rätselt; einerseits über die Rakete an sich, andererseits darüber, inwieweit der Diktator mit dem Abschuss einen Atomschlag vorbereitet.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, habe der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache gesagt, Moskau habe eine ukrainische Militäreinrichtung mit einer neuen hyperschallschnellen Mittelstreckenrakete namens 9M729-„Oreschnik“ (zu Deutsch: Hasel / Haselnussstrauch / Nussstrauch) angegriffen und gewarnt, dass weitere Raketen dieses Typs folgen könnten. Reuters zufolge wolle er Zivilisten künftig vor solchen Angriffen warnen. Die Rakete sei mit Übungssprengköpfen versehen gewesen, da keine Explosionen nach dem Aufschlag erfolgt seien.
Putins neue alte Bedrohung der gesamten Welt – sein Raketenabwehr-Killer
Aufgetaucht ist das Grundmodell offenbar vor rund zehn Jahren. Das Online-Magazin Sputnik hatte am zweiten Weihnachtsfeiertag 2014 berichtet, „diese Rakete, die von den Medien als Raketenabwehr-Killer bezeichnet wurde, wird 2016 in die Bewaffnung der russischen strategischen Raketentruppen aufgenommen, die derzeit über Feststoffraketen der Typen Topol-M und Jars verfügen“. Laut Sputnik seien die ersten Raketenstarts 2013 erfolgt; der Thinktank Center for Strategic and International Studies (CSIS) spricht von 2011.
„Russland hat die RS-26 wahrscheinlich als Mittel eingesetzt, um die Unterstützer der Ukraine einzuschüchtern und die Spannungen durch den Einsatz einer nuklearfähigen ballistischen Rakete zu erhöhen, die europäische Hauptstädte treffen kann. Ihr Einsatz ist eher ein Signal als ein militärisches Bedürfnis.“
Wie die ukrainischen Luftstreitkräfte behaupteten, sei jetzt das mit rund 1,7 Millionen Menschen bevölkerte Dnipro, und damit die viertgrößte Stadt der Ukraine, am 21. November mit einer ebensolchen interkontinentalen Rakete beschossen worden. Als interkontinental gelten Raketen laut internationaler Verträge mit einer Mindestreichweite von 5.000 Kilometern. Sie werden entweder von der Marine, von Landfahrzeugen oder aus festen Silos heraus gestartet und fliegen einen bogenförmigen „ballistischen“ Kurs, während dem sie auch kurz die Erdatmosphäre verlassen, bevor sie wieder eintauchen und steil auf ihr Ziel zustürzen. Sie gelten als wichtigste Plattform für Kernwaffen, die auf mehrere Sprengköpfe in einer Rakete verteilt sind.
Der CSIS beschreibt die RS-26 als eine mit Feststoffen betriebene, durch Trägerfahrzeuge mobilisierte Rakete. Sie sei schätzungsweise zwölf Meter lang und habe einen Durchmesser von beinahe zwei Metern. Angeblich wiege sie 36 Tonnen und trage einen 800 Kilogramm schweren Sprengkopf – demnach könne sie sowohl einen einzigen – atomaren – Sprengkopf tragen sowie mehrere Sprengköpfe, die jeweils voneinander unabhängige Ziele bekämpfen können. Andere Quellen sprechen von der RS-26 als einer 40 bis 50 Tonnen schweren Rakete mit einem Sprengkopf von mindestens einer Tonne Gewicht.
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Erhöhte Eskalation im Ukraine-Krieg – Russland könnte Paris beschießen oder Lissabon
Trotz offensichtlich fehlender Transparenz von russischer Seite, schreibt Andrei Charuk dezidiert davon, „soweit uns bekannt ist, wurde die Rubesch ausschließlich für den Einsatz von Atomwaffen entwickelt. Ihr 1.000 bis 1.200 Kilogramm schwerer Sprengkopf sollte mit mehreren (drei bis sechs) einzeln gelenkten Sprengköpfen mit einer Kapazität von etwa 100 Kilotonnen ausgestattet sein (am häufigsten werden drei bis vier Sprengköpfe mit jeweils 300 Kilotonnen angegeben)“, so der Militarnyi-Autor.
Eine Interkontinentalrakete gilt als strategische Waffe im Vergleich zu taktischen Waffen, also kleineren Waffen für den Einsatz auf einem begrenzten Gefechtsfeld. „Die Sprengkraft taktischer Atomwaffen variiert in der Regel zwischen 0,3 und mehr als 50 Kilotonnen TNT. Zum Vergleich: Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Sprengkraft von 16 Kilotonnen TNT“, schreibt die Tagesschau. Taktische Waffen werden für Entfernungen von bis zu 100 Kilometern verwandt oder für Distanzen von mehreren Hundert Kilometern.
Der jetzige mit der Interkontinentalrakete „Oreschnik“ durchgeführte Angriff markiert also eine neue Dimension. Die Ukrainska Prawda mutmaßt, die Rakete sei abgefeuert worden vom Testgelände Kapustin Jar im russischen Bezirk Astrachan. Bis zum Ziel Dnipro hat die Rakete also 1.000 Kilometer zurückgelegt. Sie könnte vom dortigen Standort aus mindestens das rund 3.800 Kilometer entfernte Paris erreichen oder fast sogar das rund 5.500 Kilometer entfernte Lissabon.
Die USA haben eine Antwort – sehr teure Antiraketensysteme wie das amerikanische THAAD
„Einzelne Systeme erzeugen aperiodische Schwankungen in Geschwindigkeit und Richtung, die verhindern, dass der Sprengkopf im Flug getroffen wird. In jedem Fall wären für ein solches Ziel sehr teure und spezielle Antiraketensysteme wie das amerikanische THAAD erforderlich“, schreibt Andrei Charuk. Das „Terminal High Altitude Area Defense“-System sei das Beste, was das Arsenal der USA hergäbe, lobt aktuell das Nachrichtenmagazin Spiegel. THAAD sei vergleichbar mit den israelischen Systemen Arrow-2 und Arrow-3 und ergänze ein System wie den Iron Dome.
Das THAAD-Radar soll Ziele bereits in 3.000 Kilometern erfassen können; dessen Raketen würden dann anfliegende Bedrohungen in einer Entfernung von bis zu 200 Kilometern bekämpfen können. Eine Einheit soll jeweils sechs Raketenträger mit jeweils acht Raketen umfassen. Laut Spiegel hätten die USA jetzt eine THAAD-Einheit nach Israel verlegt, um gegen etwaige Raketenangriffe aus dem Iran gewappnet zu sein; die Ukraine verfügt über kein solches System.
Ukraine-Krieg schaukelt sich auf – Putin beantwortet die Freigabe westlicher Waffen
Auf den 24. Februar 2022 datiert das erste „nukleare Signal“ aus Moskau: „Egal, wer versucht, uns im Weg zu stehen oder gar eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, sie müssen wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie erlebt haben. Egal, wie sich die Ereignisse entwickeln, wir sind bereit“, zitiert das CSIS den russischen Potentaten. Der jetzige Raketenabschuss gilt als jüngste Reaktion aus dem Kreml. Wladimir Putin beantwortet damit nach eigenem Bekunden die Freigabe westlicher Waffen für einen Angriff auf Russlands Territorium – anfangs auf die von der Ukraine besetzte Region Kursk, wegen der dort kämpfenden nordkoreanischen Soldaten auf russischer Seite.
„Russland normalisiert einen gefährlichen Atomdiskurs“, schreibt Heather Williams. Die Analystin verweist auf eine Studie des CSIS von Anfang 2024, nach der russische Politiker in mehr als 200 Fällen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf den Einsatz von Atomwaffen verwiesen hätten. Mit der Eskalation des Konflikts in der Ukraine hätten auch die Drohungen an Schärfe gewonnen. Zuletzt hatte Wladimir Putin auch noch seine Atomdoktrin überarbeitet – bereits die Partnerschaft eines russischen Gegners mit einer nuklearen Macht reiche demnach, um einen atomaren Erstschlag auszulösen.
Vage Hypothese – Russland hat die RS-26 eingesetzt, um die Unterstützer der Ukraine einzuschüchtern
Möglicherweise hätten die USA aber auch mit einem solchen Schritt Russlands gerechnet, mutmaßt aktuell das Magazin Newsweek und zitiert Jim Townsend. Für den ehemaligen Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums sei demnach „keine Überraschung“, dass Russland im Rahmen seines Kriegseinsatzes gegen die Ukraine eine konventionell bewaffnete Interkontinentalrakete einsetze. „Putin unternimmt derzeit eine Menge, um seinen Unmut über ATACMS auszudrücken, aber auch, um den Ton für die kommende Trump-Regierung anzugeben“, sagte Townsend gegenüber Newsweek.
Die Raketen des „Army Tactical Missile System“ aus den USA sind einige der hauptsächlichen Waffen, um Putins Phalanx zu durchstoßen. Dass die Ukraine damit jetzt auch ins russische Hinterland schießen dürfe, hat Putin wiederholt öffentlich als Fehdehandschuh des Westens gebrandmarkt. Newsweek zitiert deshalb auch mit William Freer jemanden, der zu Besonnenheit mahnt hinsichtlich etwaiger Reaktionen des Westens. Der Analyst des britischen Thinktank Council on Geostrategy sieht in der „Oreschnik“ auch eher ein Angebot zur Kommunikation, wie er gegenüber Newsweek äußert:
„Russland hat die RS-26 wahrscheinlich als Mittel eingesetzt, um die Unterstützer der Ukraine einzuschüchtern und die Spannungen durch den Einsatz einer nuklearfähigen ballistischen Rakete zu erhöhen, die europäische Hauptstädte treffen kann. Ihr Einsatz ist eher ein Signal als ein militärisches Bedürfnis.“