„Post-traumatisches Wachstum“ durch Kriegseinsatz in der Ukraine: Putins Rekrutierungs-Lüge
Russlands Krieg in der Ukraine fordert auf beiden Seiten viele Opfer – und kann die Soldaten traumatisieren. Für den Kreml eine unangenehme Wahrheit.
Moskau – In den letzten zweieinhalb Jahren hat Russland Hunderttausende von Männern in den Kampf geschickt. Im Ukraine-Krieg besteht das Leben vieler russischer Soldaten aus endlosen Monaten unter Beschuss, umgeben von den Leichen ihrer Kameraden. Die Überlebensrate ist niedrig, und viele leiden im Anschluss an psychischen Problemen. Trotzdem muss der Kreml weiterhin neue Rekruten auftreiben; aktuellen Schätzungen zufolge jeden Monat zwischen 25.000 und 30.000. Im Land ist es daher verpönt, über die Zunahme posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) zu sprechen. Stattdessen haben russische Psychologen begonnen, den Begriff „posttraumatisches Wachstum“ zu verwenden, um angeblich positiven Auswirkungen des Krieges anzupreisen.
Das geht aus einem aktuellen Bericht von Lyudi Baikala (Menschen vom Baikal) hervor, einer verbotenen Antikriegs-Website aus Sibirien. „Der Krieg traumatisiert die Menschen nicht nur, er heilt sie auch“, wird Vasily Langovoy, ein russischer Psychologe, in der Veröffentlichung zitiert. Zehn Minuten lang habe er „positive persönliche Veränderungen“ aufgezählt, die Soldaten ihm zufolge nach einem Kriegseinsatz erfahren können: Entschlusskraft, bessere Leistungen am Arbeitsplatz, schnellere Reaktionszeiten, Kontrolle über ihre Ängste, gesteigertes sexuelles Verlangen nach ihren Frauen und mehr. All diese Veränderungen seien ein Beweis dafür, dass einige Militärangehörige ein „posttraumatisches Wachstum“ und keine PTBS erleben.
Psychologen in Russland reden die Folgen des Ukraine-Kriegs klein – schließlich braucht Putin neue Soldaten
Mit diesen Ansichten ist der Langovoy offenbar nicht allein. Michail Reschetnikow, ein weiterer Psychologe, habe die Menschen aufgefordert, sich auf „positive“ Beispiele ehemaliger russischer Soldaten zu konzentrieren. Und ohnehin seien die Gefahren eines Traumas auf dem Schlachtfeld stark übertrieben. „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“, habe er hinzugefügt – eine Aussage, der auch Tatiana Uryvchikova, eine Psychologin aus Moskau beigepflichtet habe. „Stress kann dazu führen, dass ein Mensch entweder zusammenbricht oder zu Stahl wird“, habe sie gesagt. Man wisse „nie, was von beidem der Fall sein wird“.

Uryvchikova zufolge hätten die Ehefrauen vieler Soldaten gar erzählt, dass „ihre Männer heldenhafter und verantwortungsbewusster von der Front zurückkehrten und ihre besten männlichen Eigenschaften zu zeigen begannen.“ Der Psychologe Langovoy habe immerhin anerkannt, dass es für die Angehörigen mancher Soldaten schwierig sein kann, sich nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg an ihre „positive“ Verwandlung anzupassen. Trotzdem solle man nicht alle Veränderungen als Krankheit abstempeln. Wenn beispielsweise ein heimgekehrter Soldat nicht mehr dulde, dass seine Frau „die Hosen in der Familie anhat“ und seiner ihr die „Macht wegnehme“, müsse das nicht schlecht sein. Er sei dann „als Person gewachsen“ und „belastbar geworden“.
Kriegsheimkehrer sind ein Risiko für Putins Russland – Krieg in der Ukraine hinterlässt tiefe Wunden
Gegenüber der unabhängigen russischen Zeitung Nova Gazeta erzählt „Anastasia“, die Frau eines Kriegsheimkehrers, wie eine solche Rückkehr aussehen kann. Zunächst habe sie sich auf die Wiederkehr gefreut, dann aber schnell gemerkt, dass der dreimonatige Einsatz im Ukraine-Krieg ihren Mann verändert habe. Ständig habe er Albträume gehabt und aggressiv reagiert, wenn er Feuerwerk, Donner oder die Anti-Hagel-Raketen über dem nahe gelegenen Ackerland hörte. Missverständnisse seien plötzlich in Streit ausgeartet. Er habe begonnen zu schreien, um sich anschließend daran zu erinnern, dass seine Frau „kein Feind auf dem Schlachtfeld“ ist. Oft habe er sich erst spät für sein Verhalten entschuldigt.
Was ist eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)?
Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine psychische Erkrankung, die sich nach dem Erleben oder Beobachten eines extrem belastenden oder traumatischen Ereignisses entwickeln kann. Zu diesen gehören Kriegserlebnisse, Naturkatastrophen, schwerwiegende Unfälle, körperliche oder sexuelle Gewalt sowie Terroranschläge.
Die Symptome einer PTBS können variieren und umfassen typischerweise vier Hauptkategorien:
Wiedererleben: Flashbacks (das Gefühl, das traumatische Ereignis erneut zu erleben); Albträume; intensive emotionale oder körperliche Reaktionen auf Erinnerungen an das Trauma
Vermeidung: Vermeidung von Orten, Personen oder Aktivitäten, die an das Trauma erinnern; Vermeidung von Gesprächen oder Gedanken über das traumatische Ereignis
Negative Veränderungen in Denken und Stimmung: Negative Gedanken über sich selbst oder andere; Gefühl der Entfremdung oder Isolation; Schwierigkeiten, positive Emotionen zu empfinden; Gedächtnislücken in Bezug auf das traumatische Ereignis
Veränderungen in Erregung und Reaktivität: Reizbarkeit oder Wutausbrüche; übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz); Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren; Schlafstörungen
Die Kriegsheimkehrer sind in Wladimir Putins Russland inzwischen zu einem Risiko für die gesamte Gesellschaft geworden. Laut dem russischsprachigen Online-Magazin Verstka haben Personen, die im Ukraine-Krieg an der Front waren, in ihrer Heimat mindestens 190 schwere Verbrechen begangen – darunter 55 Morde. Die meisten seien dabei alkoholisiert gewesen. Im Nachhinein hätten sie sich dann über unkontrollierbare Gewaltausbrüche beklagt. Oft erkennen die Betroffenen zu spät, dass etwas nicht stimmt. „Wenn man im Krieg ist, denkt man, dass alles in Ordnung ist. Aber dann kehrt man ins zivile Leben zurück und merkt, wie anders es ist. Mit der Zeit merkt man, dass man sich innerlich verändert hat“, so ein Vertragssoldat gegenüber der Deutschen Welle.
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100.000 russische Soldaten leiden durch Ukraine-Krieg an PTSD – Doch Putin muss hohe Verluste ausgleichen
Nach Angaben des russischen Gesundheitsministeriums suchten im Jahr 2023 innerhalb von sechs Monaten 11.000 russische Militärangehörige, die am Krieg gegen die Ukraine teilgenommen hatten, sowie ihre Familienangehörigen psychologische Hilfe. Der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko hat jedoch eingeräumt, dass im Jahr 2023 nur 15 Prozent der Betroffenen eine Behandlung erhalten haben. Noch größer ist offenbar die Zahl derer, die nicht nach Hilfe suchen. Einem Bericht des britischen Verteidigungsministeriums zufolge litten bereits im Oktober 2023 mindestens 100.000 russische Soldaten an PTBS. Auch der ehemalige Generalmajor Russlands, Iwan Popow, hatte auf das Problem aufmerksam gemacht. Inzwischen wurde er entlassen.
Hinzu kommt, dass Mediziner in Russland jetzt offenbar versuchen, das Problem kleinzureden. Es sei auffällig, wie viele Psychologen ihre Meinung zu PTBS geändert hätten, so die britische Zeitung The Times. Dies lege nahe, dass sie von den Behörden unter Druck gesetzt worden seien, um kriegsfreundliche Standpunkte zu vertreten. Fyodor Konkov, ein russischer klinischer Psychologe, der seit vielen Jahren in den Vereinigten Staaten lebt, bezeichnete den Begriff „posttraumatisches Wachstum“ gegenüber der Zeitung als Propaganda. Russische Psychologen müssten „jetzt sagen, dass es keine große Zahl von Militärangehörigen mit posttraumatischen Störungen geben wird“ – egal wie sehr „dies im Widerspruch zur weltweiten Erfahrung steht“, so Konkov. (tpn)