Festakt in der Allgäuhalle in Kempten: Mehr Emotionen in Erinnerungspolitik und Demokratiebildung gefordert

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Für die Demokratie „bis zum letzten Atemzug kämpfen“ will Dr. Theo Waigel. © Lajos Fischer

Mit einem berührenden und würdevoll gestalteten Festakt wurde die Ausstellung „Butter, Vieh, Vernichtung“ in der denkmalgeschützten Allgäuhalle eröffnet.

Kempten – Eine passendere musikalische Formation als das Trio WellCaru, bestehend aus Matthias Well, Maria Well und Vladislav Cojocaru (er spielte bereits in Kempten: 2020 im Duo mit Tuija Komi im Haus International) hätte man für diese Veranstaltung kaum finden können. Die deutsch-französisch-moldawische Formation lässt in ihrem Repertoire klassische Werke mit Tango und ungarischer Musik verschmelzen. Nehmen wir beispielsweise ihre „Gloomy Sunday“-Interpretation: Das 1932 komponierte Lied (ursprünglich „Szomorú vasárnap“) des jüdisch-ungarischen Komponisten Rezsö Seress, der später auch selbst als Arbeitsdienstler Zwangsarbeit an der Front leisten musste, zog in Europa und Amerika Millionen von Menschen in seinen Bann und löste heftige Emotionen aus.

Trio WellCaru in der Allgäuhalle in Kempten
Das Trio WellCaru, bestehend aus (von links) Matthias Well, Maria Well und Vladislav Cojocaru, bereicherte mit seiner Musik die Veranstaltung. © Lajos Fischer

Um das Thema Emotionen kreisten fast alle Beiträge des Festaktes, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Ausstellung, in ein reichhaltiges Rahmenprogramm und in einen Partizipationsprozess eingebette, die „emotionale Bindungskraft“ entfalten lässt, die „eine stabile Demokratie braucht“ (Johannes Hillje: Mehr Demokratie wagen, Piper 2025). Man hörte aus den Beiträgen die Erkenntnis heraus, dass man gegen die effektiv polarisierende Emotionalisierung der extremen Rechten mit dem typisch deutschen „Pathos der Nüchternheit“ (Wolfgang Schäuble) nicht mehr ankommt, sondern dass die Gesellschaft „ein Wir, das wärmt“ (Hillje) braucht. Und man hofft, dass das gemeinsame Erinnern dieses Wir-Gefühl herstellen bzw. stärken könne.

Das Butterbrot als Symbol für die Verbundenheit mit der Vergangenheit und mit Europa

Wie einfach das geht, zeigte Ausstellungsinitiatorin und Projektleiterin Dr. Veronika Heilmannseder am Beispiel des Butterbrots, dessen Bild die Alltagskultur aller europäischer Länder prägt. Menschen fühlen sich verbunden, wenn sie sich ein Brot teilen: Im April 1941 bat Alois Stöckle in einem Feldpostbrief seine Familie in Unterthingau, ihm wieder Butter an die Front zu schicken, weil er den größten Teil aus der letzten Sendung mit seinen Kameraden geteilt habe. Menschen fühlen sich jedoch ausgeschlossen, wenn sie nichts abbekommen dürfen: Das Mädchen Hanna Mayer in Fellheim versteht nicht, warum sie in der Dorfmolkerei Hausverbot hat, nur weil sie Jüdin ist. In den Berichten ehemaliger KZ-Häftlinge ist von einem Stück Glück die Rede, wenn sie beschreiben, dass sie eine Portion Margarine erhalten haben.

Heilmannseder zitierte Jean-Claude Juncker: „Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur.“ Man habe den neuen Nationalismen und alltäglichen Anfeindungen etwas entgegenzusetzen, wenn man Erinnerungsräume schaffe und diese gemeinsam gestalte, betonte sie. Und das fange mit einem geteilten Butterbrot an.

„Ein besonderer Abend an einem besonderen Ort“

Für alle sei spürbar, dass man heute einen besonderen Abend an einem besonderen, authentischen Ort erlebe, sagte Oberbürgermeister Thomas Kiechle. Er erinnerte daran, dass die Stadt sich seit vier Jahren intensiv mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetze. Das zu tun, sei eine Frage der Verantwortung, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber. Wenn man sich mit dem, was die Familien im Allgäu damals erlebt haben, intensiv beschäftige, spreche man unausweichlich auch über die eigene Zukunft.

Die Sorgen um diese Zukunft waren aus der Festrede von Dr. Theo Waigel klar herauszuhören. Er sagte, dass er Schwächen der Weimarer Republik in unserer Zeit wiedererkenne, und fügte hinzu: „Dagegen bin ich bereit bis zum letzten Atemzug zu kämpfen.“ Wie stark die Emotionen waren, die diese Aussage im Publikum auslöste, zeigte der lange Applaus an dieser Stelle.

Der ehemalige Bundesfinanzminister erzählte, dass er seine spontane Zusage, die er Heilmannseder bei einer Begegnung in Memmingen gegeben hatte, auf dem Heimweg wegen der Vielzahl seiner sonstigen Verpflichtungen für ein paar Minuten bereute. Aber jetzt sei er davon überzeugt, dass es richtig war, für diese „bemerkenswerte Ausstellung“ die Schirmherrschaft zu übernehmen, die überregionale Aufmerksamkeit erhalte und die Menschen auffordere, über die NS-Zeit zu erzählen und die Bilder, die darüber in ihren Köpfen entstanden sind, zu reflektieren.

Dr. Theo Waigel‘s Erinnerungen und die deutsch-französische Aussöhnung

Der 1939 Geborene schilderte seine Erinnerungen an den kleinen Landwirtschaftsbetrieb seiner Eltern in Oberrohr, an die Kontrollen über Milch und Fleisch, aber auch an das Schwarzschlachten und heimliche Buttergewinnung. An die im Dorf eingesetzten Zwangsarbeiter, unter ihnen an einen Franzosen, der sich in die Tochter des Bauern verliebt hatte. Die Vaterschaft ihres Kindes wurde bis zum Kriegende verheimlicht. Die beiden heirateten und zogen nach Frankreich. In das Land, wo Theos 13 Jahre älterer Bruder Gustl im September 1944 gefallen war. Waigel erzählte auch über die Freundlichkeit, mit der eine französische Familie seinem Bruder begegnete und die Hilfsbereitschaft seiner Eltern den französischen Fremdarbeitern gegenüber; über menschliche Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen, die auch nach dem Krieg Bestand hatten. Er erinnerte sich an die Begegnung mit Alain Terrenoire im Kemptener Rathaus im Januar 2023. Der Franzose, ein Wegbereiter der deutsch-französischen Aussöhnung und des Élysée-Vertrages, besuchte damals die Allgäuhalle, wo sein Vater im Außenlager des KZ Dachau Zwangsarbeit leisten musste (wir berichteten).

Dem Festredner war es wichtig, über die 379 Menschen zu sprechen, die aus Ursberg bei der Euthanasie-Aktion weggebracht und getötet wurden. „Darüber hat nach dem Krieg kein Pfarrer, keine Lehrerin und auch kein Politiker ein Wort verloren. Ich hätte gewünscht, dass einer der Lehrer sagt, wir haben Fehler gemacht“, fügte der 86-Jährige hinzu. Als er auf die Oberschule nach Krumbach wechselte und auf die Frage des Lehrers sagte, dass er vorher die Volksschule in Ursberg besucht hatte, erntete er allerdings ein „spöttisches Gelächter“. „Ursberg war als Ort für Menschen mit Behinderung noch mit vielen Vorurteilen belastet“, schreibt er auch in seinen Erinnerungen („Ehrlichkeit ist eine Währung“, Econ 2019).

Farbe bekennen statt schweigen

Als Beispiel dafür, dass es auch heute nicht einfach ist, in Bezug auf die Vergangenheit Farbe zu bekennen, berichtete er von einem Buch über die Geschichte eines Allgäuer Ortes (den er nicht nannte), in dem die Autorin „auch die Verstrickungen dieser unseligen Zeit nicht verschwieg“. Da niemand ein Vorwort schreiben wollte, um „keinen Ärger mit den Nachkommen derer, die sich damals schuldig gemacht haben“ zu bekommen, übernahm Waigel die Aufgabe (Rosa Maria Schwab: „Geschichten aus Unterthingaus Geschichte“, 2022).

Waigel rief dazu auf, „aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen und die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen“, und warnte: „Politische Passivität, mangelndes Interesse und fehlende Zivilcourage sind die Einfallstore und Anker totalitärer Herrschaftssysteme. Dem gilt es sich in unserer Zeit zu besinnen.“

Zwangsarbeiter gab es überall

Die Erinnerung lebendig halten Hand in Hand mit Demokratiebildung sind seit 2007 die zentralen Ziele der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, betont Fachreferentin Dr. Sonja Begalke. Vorher gelang es der vom deutschen Staat und von der deutschen Wirtschaft finanzierten Organisation, 1,66 Millionen ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu entschädigen. Die Zwangsarbeit in der NS-Zeit war überall gegenwärtig, betonte sie. Die Rede ist von mehr als 20 Millionen Menschen, mehr als 13 Millionen davon auf dem Gebiet des Deutschen Reichs.

Begalke lobte das Projektteam, dem es gelungen ist, die richtige Sprache für die Menschen in der Region zu finden: Sie haben sich angesprochen und eingebunden gefühlt. Wissenschaftlich korrekt vermittelt die Ausstellung emotionale, zeitgemäße Zugänge zur Geschichte der Region.

Viel Herzblut in die Ausstellung gesteckt

Ulrich Fritz, Geschäftsführer des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, sprach darüber, dass das Erinnern tatsächlich eine Arbeit ist. Die Geschichte der NS-Zeit sei auch noch heute in jeder Familie spürbar.

Museumsleiterin Dr. Christine Müller Horn hob den partizipativen Charakter des von ihr mitkuratierten Projekts hervor und sprach von der Wichtigkeit der pädagogischen Vermittlung in der Kemptener Kulturarbeit. Sie zählte dankend die zahlreichen Helferinnen und Helfer auf, die mit viel Herzblut zum Gelingen der Schau beigetragen haben.

Ein Theaterstück erinnert an den Zeitzeugen Venanzio Gibillini

Zum Festakt angereist sind einige Nachkommen der Häftlinge des KZ-Außenlagers: Frau Bermond aus Basel und die Familie Gibillini aus Mailand. Zu den Ehrengästen gehörte auch Zeitzeugin Frau Wirth aus Kempten. Fulvio Gibillini trug auf Italienisch einen Auszug aus seinem nach dem Tod seines Großvaters Venanzio im Jahre 2019 verfassten Theaterstück vor, mit dem er die Erinnerung an dessen Zeit im Widerstand, im Gefängnis und in den Konzentrationslagern, aber auch an die gemeinsam erlebte Zeit in der Familie wachhält.

Fulvio Gibillini beim Festakt zur Ausstellung „Butter, Vieh, Vernichtung“
Die Erinnerung an seinen geliebten Großvater Venanzio wachhalten will Fulvio Gibillini. Er schrieb über sein Leben ein Theaterstück. © Lajos Fischer

Hier ein kurzer Ausschnitt: „In den letzten Jahren seines Lebens war es für ihn eine Mission, den jungen Menschen seine Geschichte zu erzählen – eine Mission, die ihn paradoxerweise vielleicht am Leben hielt. Er sprach mit Tausenden von Menschen in ganz Italien, ohne jemals Zorn oder Rachewünsche zu äußern. Er gab viel und erhielt viel von denen, die ihm zuhörten: Liebe, Verständnis, Brüderlichkeit.“

Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.

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