„Russlands Kontrolle wird schwächer“ - Analyst nennt einziges Szenario für baldiges Kriegsende in der Ukraine
Sorge und Hoffnung sind die zwei Hauptgefühle der Ukrainer, wenn sie an die Zukunft denken. Dies geht aus den Ergebnissen einer Umfrage der Stiftung „Demokratische Initiativen“ hervor. 45 Prozent der Befragten gaben an, dass sie große Sorgen empfinden. Dennoch setzen 55 Prozent ihre Hoffnung auf das Jahr 2025. Auch wenn die Soziologen die Frage nicht konkretisiert haben, so ist doch klar: Die Ukrainer hoffen auf ein Ende des Krieges.
Zum dritten militärischen Kriegssilvester wartete man daher gespannt auf die Videoansprache des Präsidenten: Was erwartet er vom nächsten Jahr? 20 Minuten vor Mitternacht erschien Wolodymyr Selenskyj auf allen Fernsehschirmen des Landes vor dem Hintergrund des Mutterland-Denkmals in Kiew – die 100 Meter hohe Statue ist in gelben und blauen Farben beleuchtet. Während seiner Ansprache waren auch die Farben der Nationalflaggen der verbündeten Länder sowie die Namen der gefallenen Soldaten darauf zu sehen.
Die Ukraine will einen gerechten Frieden
Den größten Teil seiner Silvesteransprache spricht Selenskyj aus dem Off. Den Zuschauern werden dramatische Videobilder aus dem dritten Kriegsjahr gezeigt. Das wichtigste Ergebnis von 2024, so Selenskyj, ist, dass die Ukraine überlebt hat und dadurch noch stärker geworden ist. Doch was steht dem Land bevor?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass der neue amerikanische Präsident der Ukraine Frieden bringen will und kann und Putins Aggression ein Ende setzt.
Der Wandel in der Rhetorik des Präsidenten ist auffällig. Am Silvesterabend 2023 noch drückte Wolodymyr Selenskyj seine Hoffnung aus, dass es das Jahr des ukrainischen Sieges sei: „Wir haben keine andere Möglichkeit, als zu gewinnen“, sagte er. Und die Ukrainer selbst glaubten damals, dass Russland auf dem Schlachtfeld besiegt werden würde. Ein Jahr später wünschte der Präsident seinen Landsleuten „Sieg und Frieden“. Für das Jahr 2025 hofft er auf einen „gerechten Frieden“ – diese Worte waren in Selenskyjs Videoansprache dreimal zu hören.
Er spricht auch nicht mehr von der sofortigen Rückgabe der Grenzen von 1991 als Voraussetzung für die Beendigung des Krieges. Allerdings verspricht Selenskyj den Ukrainern in den besetzten Gebieten, dass „die Ukraine eines Tages zurückkehren wird, um zusammen zu sein“.
Besondere Hoffnung setzt Wolodymyr Selenskyj auf den designierten US-Präsidenten: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass der neue amerikanische Präsident der Ukraine Frieden bringen will und kann und Putins Aggression ein Ende setzt. Das erste ist ohne das zweite unmöglich. Denn es handelt sich hier nicht um eine Straßenschlacht, bei der man zwei Seiten befrieden muss. Es handelt sich um eine groß angelegte Aggression eines verrückten Staates gegen einen zivilisierten Staat. Und ich glaube, dass wir zusammen mit den Vereinigten Staaten diese Kraft haben – um Russland zu einem gerechten Frieden zu drängen.“
Dieses Thema wird sowohl in den Medien als auch in Küchengesprächen aktiv diskutiert, und jedem ist klar, dass es früher oder später zu solchen Verhandlungen kommen wird.
Dass der Wahlsieg Trumps den Frieden in der Ukraine näher bringt, glauben auch 45 Prozent der Ukrainer. Während nur 14 Prozent befürchten, dass sein Einzug ins Weiße Haus im Gegenteil die Chancen auf ein Ende des Krieges verringern wird. Dies zeigen die Ergebnisse einer Umfrage, die im Dezember vom Internationalen Institut für Soziologie in Kiew durchgeführt wurde.
Zugleich verzeichnen die Soziologen seit einigen Monaten eine Zunahme derjenigen, die mit territorialen Zugeständnissen an das Aggressorland einverstanden sind, um den Krieg zu beenden.
Das Warten auf Verhandlungen mit Russland
Anstelle der kategorischen Ablehnung direkter Verhandlungen mit Russland wird deren Unvermeidlichkeit inzwischen hingenommen. Der Soziologe Oleksiy Antipovich erklärt dies in einem Interview mit der BBC nicht nur mit der Kriegsmüdigkeit und den Luftangriffen. Man wünsche sich zumindest eine gewisse Gewissheit, wenn man durchatmen, etwas planen und irgendwie weiterleben könne.
Daher seien die Menschen innerlich schon bereit für Verhandlungen mit Russland. „Dieses Thema wird sowohl in den Medien als auch in Küchengesprächen aktiv diskutiert, und jedem ist klar, dass es früher oder später zu solchen Verhandlungen kommen wird.“
Die Bedingungen für eine mögliche Friedenslösung bleiben jedoch fast völlig im Dunkeln. Selbst Donald Trump hat bereits öffentlich zugegeben, dass „den Krieg in 24 Stunden zu beenden“ sich als viel schwieriger erweist, als er ursprünglich dachte.
Das wahrscheinlichste Szenario ist die gleichzeitige Fortsetzung des Krieges und der Friedensverhandlungen. Und das könnte fast das ganze Jahr 2025 andauern.
Wolodymyr Fesenko, Direktor des Penta-Zentrums für politische Studien, ist überzeugt, dass es einen Verhandlungsversuch geben wird. Er ist jedoch skeptisch, was die Aussichten auf einen Erfolg angeht. „Russland wird bei diesen Gesprächen offensichtlich eine harte Ultimatumstaktik anwenden, was den Verhandlungsprozess in eine Sackgasse führen könnte“, so Fesenko.
Dies könne sogar zu einer neuen Runde der globalen Konfrontation führen – zwischen Russland und seinen Verbündeten und der vom Westen unterstützten Ukraine. „Das wahrscheinlichste Szenario ist die gleichzeitige Fortsetzung des Krieges und der Friedensverhandlungen. Und das könnte fast das ganze Jahr 2025 andauern“, sagte er.
Der Politikexperte Wadym Denysenko glaubt, dass im Frühsommer Klarheit herrschen wird, wenn die Verhandlungen wirklich kurz nach der Inauguration Trumps beginnen. „Sollten die Diskussionen jedoch bis zum Frühsommer nicht zu einem Einfrieren oder einer Beendigung des Konflikts führen, wird wahrscheinlich ein neuer Zyklus des Krieges beginnen, der mindestens ein Jahr dauern wird.“
Das Risiko der unerfüllten Hoffnungen ist weiterhin hoch
Nach Ansicht des politischen Analysten Taras Sagorodnij ist die einzige Chance für ein Ende des Krieges im Jahr 2025, wenn Russland mit einer internen Krise konfrontiert wird. „Der jüngste Anschlag auf einen General im Zentrum Moskaus ist ein Beweis dafür, dass die Kontrolle über die Situation selbst innerhalb der russischen Grenzen schwächer wird.“
Er schließe nicht aus, dass einige russische Eliten früher oder später den Versuch unternehmen würden, Putin abzusetzen. „Schließlich ist das jüngste Beispiel des Sturzes des syrischen Machthabers Assad ein deutlicher Hinweis auf die Fragilität autoritärer Regime.“
Doch was, wenn die Hoffnung auf ein Ende des Krieges im Jahr 2025 nicht in Erfüllung geht? Diese Frage stellt Serhiy Prytula, der Leiter des größten ukrainischen militärischen Spendenfonds „Return to Survivors“, sich selbst. Er ist der Meinung, dass man aufhören sollte, dauernd über den Friedensplan zu reden, denn ein Scheitern der Verhandlungen wäre für die Ukrainer eine große Enttäuschung.
Und das Wichtigste: Eine verfrühte Entspannung könne die Verteidigungsfähigkeit des Landes gefährden. „Wenn man mich nach meinen Erwartungen für 2025 fragt, antworte ich: Unser Fond hat eine Strategie für 2025 als Jahr des heißen Krieges erarbeitet. Es ist besser, von pessimistischen Prognosen auszugehen und eine Strategie zu entwickeln, die alle mit Krieg und Verteidigung verbundenen Aspekte berücksichtigt“, meint Prytula.
Von Valeriia Semeniuk
Das Original zu diesem Beitrag "Zwischen Sorgen und Hoffnung auf Trump: So blickt man in Kiew auf das neue Jahr" stammt von Tagesspiegel.