Kempten: Über die Erosion des Gemeinsinns – eine Bestandsaufnahme mit Kommentar

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Müllmassen im öffentlichen Raum: Ein Zeichen für steigende Gleichgültigkeit in der Stadtgesellschaft? © Grafik: Lajos Fischer, Daten: Stadt Kempten

Wird die Politik mit den vielfältigen Herausforderungen der Gegenwart konfrontiert, folgt darauf der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt fast reflexartig. Dieses Wort habe in keinem anderen Land wie Deutschland eine solche politische Karriere gemacht, stellt der amerikanische Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller fest. Auch in Kempten beruft man sich regelmäßig auf den Gemeinsinn in der Stadtgesellschaft. In letzter Zeit häufen sich die Anzeichen dafür, dass dieser bröckelt.

Kempten – In der Jahresversammlung der Altstadtfreunde machte die stellvertretende Vorsitzende Annette Rampp darauf aufmerksam, dass der Vandalismus in der Innenstadt in letzter Zeit massiv gestiegen sei. Am Illersteg habe man die Radfahrzählanlage für einige Tage außer Betrieb nehmen müssen, weil sie mutwillig beschädigt worden sei. Die vor kurzem aufgestellten Trinkwasserzapfanlagen hätten auch leiden müssen. Verkehrsschilder würden einfach umgetreten, Blumenkübel umgestoßen, Toilettenanlagen zerstört. Sie beklagte sich, dass die Leute, die davon etwas mitbekommen, wegschauen, statt einzugreifen.

Abfallmenge im öffentlichen Raum: Verdoppelung in sieben Jahren

Im Klimaschutzbeirat berichtete Thomas Weiß darüber, dass in Kempten – trotz der Zielsetzung der Abfallvermeidung im Klimaplan 2035 – der Betriebshof immer mehr Abfall im öffentlichen Raum (Mülleimer, Grünflächen, Wege und Straßen) einsammeln muss (siehe Tabelle). Die Menge hat sich in den letzten sieben Jahren verdoppelt. Gleichzeitig kämpfen manche Anwohner in der Altstadt mit einer Ratten- und Mäuseplage, die Tiere werden unter anderem eben von dem großen „Nahrungsangebot“ durch den hinterlassenen Müll angelockt.

Die wichtigsten Förderer und Träger des Gemeinsinns sind Vereine, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Initiativen des bürgerlichen Engagements. Dass diese Organisationen vor großen Herausforderungen stehen, merkt man an ihren sinkenden Mitgliederzahlen und an dem steigenden Altersdurchschnitt ihrer Vorstände. Die Unterstützung der dort geleisteten Freiwilligenarbeit gehört zu den optionalen Leistungen der Kommunen, die wegen der angespannten finanziellen Lage zurzeit auch in Kempten infrage gestellt werden. Gleichzeitig wünscht sich die Kommunalpolitik, dass die durch die notwendigen Einsparungen und den Fachkräftemangel nicht leistbaren kommunalen Aufgaben teilweise von der Zivilgesellschaft übernommen werden. Hinzu kommt: Ehrenamtliche Arbeit braucht in der Regel hauptamtliche Unterstützung und darf, zum Beispiel fachlich, nicht überfordert werden.

Sind mehr Kontrollen eine Lösung?

Die Diskutanten in der Versammlung der Altstadtfreunde – die Zahl der interessierten Mitglieder konnte man auch hier an beiden Händen abzählen – sahen die Lösung in höheren Strafen, mehr Kontrolle und größerer Polizeipräsenz: In Maßnahmen, die der Staat zu leisten habe. „Das Thema geht uns alle an. Erziehen tun alle, nicht nur der Ordnungsdienst“, entgegnete Oberbürgermeister Thomas Kiechle. Was im öffentlichen Raum passiere, gehe alle an, deswegen dürfe man nicht einfach wegschauen. Er führe mit der Polizei regelmäßig Sicherheitsgespräche, dort herrsche aber auch Personalmangel. Außerdem habe die Belastung für die Polizisten durch die vielen Demonstrationen massiv zugenommen.

Schaut man auf die Demonstrationen, sieht man ein Spiegelbild der spannungsvollen gesellschaftlichen Verhältnisse. Größtenteils bekommt man mit, gegen wen die Menschen auf die Straße gehen und nur selten, wofür sie sich einsetzen. Und wenn es mal vordergründig zum Beispiel um den Frieden geht, positioniert man sich nicht selten gegen die Ukraine. Steht auf den Transparenten „Für Palästina“, muss man nicht lange nach antiisraelischen Aussagen Ausschau halten. Wenn man zum Zusammenhalt für die Verteidigung der Demokratie aufruft, aber manche Parteien des demokratischen Spektrums ausschließt, bleiben Fragezeichen im Raum. Seit den Bauernprotesten sind Ampel- und Grünen-Bashing zu Selbstläufern geworden. Die Zerstörung von Wahlplakaten hat vor der Europawahl „Spitzenwerte“ erreicht. Dass montags zwei Gruppen in der Innenstadt sich gegenüberstehen und sich anfeinden, gehört inzwischen so selbstverständlich zum Stadtbild wie der Wochenmarkt.

Andere Wege beschreiten für den Zusammenhalt

Die „Montagsspaziergänger“ sind eine verfestigte Verkörperung einer „Daseinshaltung“. Für diese ist einerseits eine „diffuse Wut auf das ‚System‘ oder wirklich Notleidende“, andererseits „eine in dem Maße wohl bisher ungekannte Anspruchshaltung demselben System gegenüber, welches zugleich so vehement und pauschal abgelehnt wird“ charakteristisch, stellte der österreichische Philosoph und Psychologe Alexander Batthyány bereits 2017 fest. Er schilderte auch, welche Bereicherung es für die Gesellschaft und für die Menschen selbst bedeuten könnte, wenn sie die gleiche Energie für das Gemeinwohl einsetzen würden.

In einer Gesellschaft, die bisher von Wachstums- und Fortschrittsnarrativen geprägt war, fällt es der Politik nicht leicht, mit gravierenden Verlusten umzugehen und diese den Menschen zu erklären. Der Kemptener Oberbürgermeister beschreibt die Ursachen (Krieg, Inflation, immer mehr übertragene Aufgaben) der schwierigen finanziellen Situation regelmäßig, um die Einschnitte zu begründen und bittet um eine breite Unterstützung. Seine Strategie ist, „auf Sicht zu fahren“, ähnlich wie in der Corona-Zeit. Für einen genehmigungsfähigen Haushalt 2025 wird dies voraussichtlich reichen. Er verwendet das Bild einer Zitrone, die nur einmal ausgepresst werden könne und betont, dass man die Situation in einem Jahr heute nicht voraussehen könne. Um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern, muss man aber – gegen den Trend – auch Ressourcen in der Stadtgesellschaft mobilisieren, die einer anderen Ökonomie gehorchen: Solidarität, Hilfsbereitschaft, Übernahme von Verantwortung und Achtsamkeit. Diese wachsen, je mehr man sie gebraucht. Damit eine solche Mobilisierung gelingen kann und der Wunsch nach Zusammenhalt nicht nur eine leere Worthülle bleibt, ist das Beschreiten von Pfaden jenseits der üblichen Wege notwendig.

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