Die neue Weltunordnung: Was zwei Europäer uns über Frieden lehren

Wenn man Krieg nie erlebt hat, wird Frieden zur Selbstverständlichkeit. Umso wichtiger sind Menschen, die diesen vermeintlichen Normalzustand verteidigen.

Zwei von ihnen haben mich am Wochenende sehr bewegt.

Die eine: Sofia Corradi. Sie starb im Alter von 91 Jahren in ihrer Heimatstadt Rom. Ihr Name ist vielen unbekannt, ihre Erfindung aber kennt der ganze Kontinent: Die Pädagogik-Professorin war „Mamma Erasmus” – sie hat das europäische Uni-Austauschprogramm entwickelt (das als Erasmus+ nun auch Auslandspraktika für Azubis ermöglicht).

Eine pazifistische Mission

Seit 1987 haben etwa 16 Millionen junge Europäer sich so fremde Länder und Kulturen erschlossen, Freunde gefunden, gefeiert – und mehr: Ich bin Patentante eines Jungen, dessen Eltern sich ohne Erasmus wohl nie kennengelernt hätten.

Corradi nannte Erasmus ihre „persönliche pazifistische Mission”, und dieses Lebenswerk lebt weiter.

Karl Schlögel, 77, der gestern den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, gehört nicht zur Generation Erasmus.

Die Friedensgeneration tut sich schwer

Doch auch seine „an eine scheinbare Friedenszeit gewohnte und friedensverwöhnte“ Generation, so der Historiker und Publizist, habe „unwahrscheinliches Glück gehabt, und tue sich nun unerhört schwer, Abschied zu nehmen und sich auf den Krieg in Europa und alles, was damit zusammenhängt, einzustellen“.

Schlögel wächst als Bauernsohn im Allgäu auf. Unter seinen Lehrern sind Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, die nur wegen der Warmherzigkeit der lokalen Bevölkerung überlebt hatten.

Ein Pendler zwischen Ost und West

Schlögel lernt russisch, bereist Osteuropa, erlebt vor Ort den Prager Frühling, studiert osteuropäische Geschichte, heiratet eine russische Schriftstellerin. Er sei, sagt er von sich, „seit seiner Jugend der russischen Kultur verfallen“.

In seiner Dankesrede widmete Schlögel sich der „neuen Weltunordnung“. Es sei erstaunlich, wie lange Deutschland gebraucht habe, „gewahr zu werden, womit man es mit Putins Russland zu tun hat.“ Es gab „viele Russlandversteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden.“

Der Unsinn der Sinnsuche

Bequemer sei es gewesen, „der Nato oder gleich dem kollektiven Westen die Schuld zu geben“ – und einen tieferen Sinn in Putins Politik zu suchen, ob „Demütigung der einstigen Supermacht, Einkreisungsängste, Sicherheitsbedürfnis, Kampf um Anerkennung.“

Dabei sei Putin eine „Gestalt des Bösen“, ein „Meister der Eskalationsdominanz“. Die Angst sei seine wichtigste Waffe „und in der Bewirtschaftung der Angst besteht sein wahres Talent“.

Von den Ukrainern lernen

Die Ukrainer hingegen zeigten uns, „dass dem Aggressor entgegenzukommen nur dessen Appetit auf noch mehr steigert und dass Appeasement nicht zum Frieden führt, sondern den Weg in den Krieg ebnet.“  Sie seien „Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich.“

Wir sollten, so Karl Schlögel, von den Menschen in der Ukraine lernen. Finden Sie nicht auch? Schreiben Sie uns: feedback@focus-magazin.de