Heute um 19 Uhr ist wieder mit dem Äußersten zu rechnen: Regierungs-Gemurre, Schlagzeilen etc. Der Grund: In Göttingen findet beim dortigen „Literaturherbst“ eine Lesung statt. Sie denken, das klinge so wild wie ein Taizé-Abend auf Kamillentee? Dann wissen Sie nicht, wer in Göttingen auftritt: Angela Merkel!
Altkanzlerin, Bestseller-Autorin, Power-Pensionärin!!! So viele Ausrufezeichen habe ich gar nicht, wie ich bräuchte. Früher dachte man ja eher, sie selbst sei der Taizé-Abend: die Hände zur beruhigenden Raute gefaltet, die Wahlkampf-Slogans so dynamisch wie ihre Politik: „Sie kennen mich.“ Seit geraumer Zeit kultiviert sie aber eine neue Rolle: die der welterklärenden Kritikerin von der Seitenauslinie.
Wie Merkel Putin besänftigen wollte
Gerade erst war Merkel in Ungarn. Ein Interview zur ungarischen Ausgabe ihres Werks „Freiheit“ geriet dann gleich zur Abrechnung mit halb Osteuropa. Merkel erzählte von einem neuen Dialogformat, das sie mit Putin noch Mitte 2021, im Spätherbst ihrer Kanzlerinnenschaft, habe etablieren wollen. Polen und Balten hätten das blockiert. Der Rest ist – sic! – Geschichte: „Dann bin ich aus dem Amt geschieden“, erklärte Merkel, „und dann hat die Aggression Putins begonnen.“
Potztausend, dachte ich da, wenn diese Frau noch ein paar Jahre weiter regiert hätte, wäre uns also vieles erspart geblieben: Ukrainekrieg, Energiekrise, wirtschaftlicher Einbruch. Womöglich sogar Trump, Klimawandel und das Comeback von Stefan Raab. Die gescholtenen Nachbarländer sahen das mit Putin übrigens ganz anders. In Polen, Estland, Lettland – überall wurde Merkel für ihre vermeintliche Geschichtsklitterung beschimpft.
Angriffe auf Merz helfen Merkels Image
Da reagiert zumindest ihr Kanzler-Nachfolger Friedrich Merz entspannter, denn auch der wird seit geraumer Zeit gemaßregelt von seiner persönlichen Standpaukerin aus der Uckermark. Es begann Anfang des Jahres, als er versuchte, mit der AfD ein schärferes Asylrecht durchzupauken. Seither muss man sich als Journalist schon sehr dumm anstellen, um von Merkel nicht mit ein paar bösen Merz-Bemerkungen beschenkt zu werden.
Warum das alles? Weil sie es kann. Und weil Merkel weiß, dass Merz-Schmähungen es in die „Tagesschau“ ebenso schaffen wie in die Herzen ihrer Union. Vor allem: Je schlechter Merz dasteht, umso heller strahlt ihr Stern, der vorher durch Flüchtlingskrise und Corona deutlich verblasst war. Auch Göttingen heute Abend ist ausverkauft.
26 Euro für einen Abend mit der Kanzlerin
Die Leute zahlen gern 26 Euro Eintritt, um sich an Merkels frisch polierter Regentinnen-Aura zu wärmen, obwohl sie mit ihrer Kritik mittlerweile ziemlich kleines Karo bedient. Zu den Feierlichkeiten am Tag der Deutschen Einheit rief sie den Organisatoren zu, dass es schön gewesen wäre, wenn man neben Stars wie Emmanuel Macron auch jemanden aus dem Osten auf der Rednerliste gehabt hätte. Das stimmt zwar. Aber muss sie jetzt zu allem ihren Senf geben?
Es geht ihr doch gut. Sie hat eine Pension von rund 15.000 Euro monatlich und in Berlin, Unter den Linden, ein Büro, in dem vor ihr schon Helmut Kohl und davor wiederum Margot Honecker residiert hatte. Außerdem neun Mitarbeiter mit bis zu 10.000 Euro Gehalt. Büroleitung, Referenten, Schreibkräfte, Fahrer. Aber was ist das schon?!
Dass auch Aufmerksamkeit eine Droge werden kann, merkt man ihr leider ausgerechnet jetzt an, da sie sich diese Aufmerksamkeit erarbeiten muss. Ihre diplomatische Zurückhaltung bis an den Rand der Selbstverleugnung früher war mir sympathischer.
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