„Beim Thema Migration liegen persönliche, gesellschaftliche und globale Fragen sehr eng beieinander. Diese Verflechtungen werden bei der Care-Arbeit besonders klar sichtbar“, betonte Hochschulpräsident Prof. Wolfgang Hauke in seiner Begrüßung bei der Diskussionsveranstaltung mit dem Titel „Willkommen im Allgäu? Globale Bedarfe am Beispiel der Care-Arbeit“ im Audimax.
Kempten – „Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt kommen zu uns, um in Einrichtungen und Familien die Verantwortung für die Pflege zu übernehmen“, fuhr er fort. „Und das oft unter herausfordernden Bedingungen. Weltweite Mobilität trifft hierbei auf lokale Realität, bietet aber auch Chancen für ein neues Miteinander.“
Gabriele Winkler, Mitarbeiterin von Engagement Global, zitierte die Bundestagsrede der neuen Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan: „Entwicklungspolitik ist ein unverzichtbarer Teil deutscher Migrationspolitik.“ Diese Verbindung sei im Bereich der Pflege in hohem Maße präsent.
Anke Heinroth sprach als Vertreterin des Bündnisses „Wir im Allgäu“ und der Diakonie: „Für jeden Menschen gibt es einen Ort, an dem er bleiben, arbeiten, lieben, Freundschaften pflegen und Kinder großziehen kann. Offen ist, wo dieses Irgendwo ist und wie es gestaltet wird.“ Es hänge von allen in der Gesellschaft, in der Politik und in der Wirtschaft ab, ob man in Deutschland Menschen, die wegen Krieg, Hunger und Gewalt ihr Zuhause haben verlassen müssen, ein gutes Irgendwo bieten könne. Sie wies darauf hin, dass hinter der Zahl von 120 Millionen geflüchteten Menschen weltweit 120 Millionen individuelle Geschichten stecken.
Blick der Wissenschaft
Prof. Felicitas Hillmann von der TU Berlin hielt den Einführungsvortrag. Anhand der Bevölkerungsstatistik in Kempten zeigte sie auf, dass mehr Menschen sterben als geboren werden, um festzustellen: „Die Migration ist die einzige Stellschraube, womit wir die Bevölkerungsentwicklung regeln können.“ Dazu kommt, dass man ab 2025 von einem Rückgang der Weltbevölkerung ausgehe.
Die weltweite Mobilität steige, es gebe auch immer mehr internationale Studierende und Touristen. Sie widersprach der von Naika Foroutan entwickelten Theorie einer „Postmigrantischen Gesellschaft“ (transcript Verlag 2019; der Begriff stammt von Shermin Langhoff) und behauptete, dass wir in einer „prämigrantischen Gesellschaft“ lebten. Die Rolle und die Größenordnung der Migration werde steigen. Ob der gesellschaftliche Zusammenhalt funktioniere, hänge in Zukunft verstärkt von der Zusammensetzung der Bevölkerung ab. Gleichzeitig hob sie hervor, dass der größte Teil der Weltbevölkerung weiterhin sesshaft ist.
Es sei nicht zufällig, wer wohin wandert, betonte Hillmann und sprach von Migrationskorridoren. Auf dem „irrsinnig anstrengenden“ Weg, der für den Einzelnen mit hohem Risiko verbunden ist, brauchen die Menschen Informationen, Finanzen und Netzwerke. Entlang dieser Korridore hat sich eine Migrationsindustrie (man wolle vom Begriff „Schlepper“ wegkommen) entwickelt, mit großen Gewinnen. Diese werden von den Migranten bitter bezahlt, nicht selten mit dem Leben.
Ist faire Migration möglich?
„Menschen wandern auf Wegen, die ihnen möglich sind“, sagte die Referentin. Die Frage ist, wie diese fair gestaltet werden können. Sie plädierte dafür, an den von internationalen Organisationen festgelegten Standards für eine faire Migration weiterhin festzuhalten. Dazu gehört, dass man aus Ländern, in denen es Unterversorgung beim Pflegepersonal gibt, keine Arbeitskräfte rekrutiere. Eine entsprechende Safeliste wird international festgelegt und von Deutschland bis jetzt eingehalten. Die Situation ändert sich mit der Zeit, beispielsweise gehören Indien und Indonesien nicht mehr zu den geschützten Staaten.
Die Bundesrepublik hat in diesem Bereich mit dem Konzept „triple vin“ gute Erfahrungen gemacht und Anerkennung bekommen. Was heißt das genau? Das Ziel ist, dass die Migration allen drei Beteiligten, dem Herkunftsland, dem Aufnahmeland und den Migranten selbst dienen soll. Dem Herkunftsland durch die Vermeidung von Brain-Drain (Entziehen des vor Ort gebrauchten Humankapitals) und durch bilaterale Ausbildungspartnerschaften. Dem Aufnahmeland bei der Vorbeugung des Fachkräftemangels und dadurch bei der Beibehaltung hoher Pflegestandards. Den Migranten durch die Minimierung der Risiken der Zuwanderung, die Anerkennung der Abschlüsse in beiden Ländern und das Ermöglichen von Rücküberweisungen ins Heimatland. Zum Erfolg des seit 2013 laufenden Programms trägt bei, dass die Kosten für Sprachkurse übernommen und die Ausgaben der Arbeitgeber, die mit dem nach-Deutschland-holen ihrer Arbeitskräfte verbunden sind, vom Staat refinanziert werden.
Die wichtigsten Herkunftsländer von internationalen Pflegekräften
Auch statistische Zahlen belegen die zunehmende Internationalisierung des Pflegesektors. 2013 gab es in diesem Bereich 1.289.312 deutsche und 75.038 ausländische Arbeitskräfte, 30.490 von ihnen kamen aus Drittstaaten. Die Zahl der deutschen Arbeitnehmer wuchs bis 2023 auf 1.424.325 und der ausländischen auf 270.370, aus Drittstaaten kamen 160.475. Während 2013 unter den Drittstaatlern türkische Pflegekräfte dominierten (9.164), mit großem Abstand gefolgt von Menschen aus Bosnien-Herzegowina, Russland, der Ukraine und Kenia (alle unter 3.000), wird der Markt 2023 von Arbeitskräften aus Bosnien-Herzegowina (18.762), der Türkei (16.343), den Philippinen (11.842) und Vietnam (7.419) beherrscht. Auffallend hoch ist auch der Anteil von syrischen Geflüchteten, die sich für eine Pflegausbildung in Deutschland entscheiden.
Die Professorin betonte in ihrer Zusammenfassung, dass der Umgang der Städte mit den Zugewanderten ein sehr heterogenes Bild abgebe und dass dieser für die Regionalentwicklung eine große Bedeutung habe. Sie sprach in Bezug auf die Internationalisierung der Pflege über ein unübersichtliches Feld, in dem die Vermittlungsagenturen eine wichtige Stellung einnehmen und in dem man mehr auf die Stimme der betroffenen Migranten und auf den Herkunftskontext achten sollte.
Blick der Betroffenen
Racky Bousso und Moath Alkhallawi arbeiten in der Seniorenbetreuung Altstadt, sie als Pflegefachkraft, er als stellvertretender Stationsleiter. Beide haben sich bewusst für den Beruf entschieden, erzählten sie auf die Frage der Moderatorin Erika Tempfli, Abteilungsleiterin bei der Diakonie. Beide haben ersichtlich Freude an ihrer Arbeit.
Bousso stammt aus dem Senegal, sie kam mit 13 Jahren nach Deutschland. Sie hält es für wichtig, dass die Bewohner im Heim das Gefühl bekommen, sie wären Teil einer Familie. Das Team sei multikulturell. In ihrer Ausbildung habe sie erlebt, dass ein älterer Bewohner sie wegen ihrer Hautfarbe beschimpft habe. Sie wünscht sich, dass während des Ramadans mehr Rücksicht auf ihren Tagesablauf genommen werde, und dass neue Kolleginnen und Kollegen eine längere Einarbeitungszeit bekommen und nach zwei Wochen nicht gleich die Schichtleitung übernehmen müssen.
Alkhallawi kam vor 10 Jahren aus Syrien nach Deutschland und landete zufällig in Kempten. Anfangs fragten ihn manche Landleute, warum er als junger Mann gerade als „Arschputzer“ von alten Leuten arbeiten wolle. „Ich bin zufrieden mit meinem Beruf“, sagte er schmunzelnd und betonte, dass nicht nur die direkte Pflege, sondern auch beispielsweise der Umgang mit den Angehörigen zu seiner Arbeit gehöre. Die größte Erleichterung für neue Arbeitskräfte wäre es, wenn sie schnell Sprachunterricht und Wohnraum bekommen würden.
Blick der Experten
In der letzten Runde diskutierte Katharina Simon, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Kempten und Moderatorin des gesamten Abends, mit drei Experten.
Als Leiterin einer Forschungsgruppe an der Goethe-Universität Frankfurt beschäftigt sich Dr. Ewa Palenga-Möllenbeck intensiv mit dem Thema 24-Stunden Pflege. Über diesen Bereich wird wenig öffentlich gesprochen, er ist jedoch inzwischen zu einer wichtigen Säule des Pflegesystems geworden. In der Praxis gibt es gute Beispiele, aber auch abenteuerliche Arbeitsverhältnisse und dementsprechend Regulierungsbedarf. Momentan sind es die Agenturen, die sich um alles kümmern, von der Ausbildung bis zur Transportorganisation der Pflegekräfte. Die Branche sei nicht frei von „schwarzen Schafen“. Es handelt sich hierbei um sehr spezifische Arbeitsplätze, bei denen Arbeit und Freizeit schwer zu trennen sind.
Matthias Fink ist seit 2019 Pflegedirektor in der Klinik Kempten. Er betonte, dass für die internationalen Pflegekräfte der bezahlbare Wohnraum eine zentrale Rolle spiele. Dieser sollte möglichst in der Nähe des Einsatzortes liegen. Der zweite Schlüssel für eine nachhaltige Integration in der Klinik ist die Sprache. Sie in Kempten haben die Erfahrung gemacht, dass Sprachkenntnisse vor dem praktischen Einsatz erworben werden sollten. Sonst sei die Belastung, auch für das Bestandspersonal, zu groß. In der Klinik arbeiten 1.400 Pflegekräfte, es gibt eine zehnprozentige jährliche Fluktuation. Ein Viertel seines Personals hat einen internationalen Hintergrund. Ohne dieses würde das System zusammenbrechen, betonte Fink. Für die Klinik ist es ein großer Gewinn, dass man in den internationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern viele Dolmetscher zur Verfügung habe, bei einer ebenfalls diverser werden Patientenstruktur. Lehrreich sind die Erfahrungen aus dem Austausch über den Umgang unterschiedlicher Kulturen mit Krankheiten und dem Tod.
Diskriminierungserfahrungen und Rassismus
Abdulrahman Alshalaby studierte an der Hochschule in Kempten und saß in Vertretung des Integrationsbeirats auf dem Podium. In einer seiner Arbeiten untersuchte er, wie viele der ausgebildeten ausländischen Fachkräfte das Allgäu wieder verlassen und kam dabei auf 50 Prozent. Die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt spiele dabei eine genauso wichtige Rolle wie die Anziehungskraft größerer Städte.
Palenga-Möllenbeck sprach von einer postmigrantischen Gesellschaft und wies darauf hin, dass die Politik in Deutschland erst spät, 2005, damit begann, sich als Einwanderungsland zu beschreiben. Auch im Pflegebereich dürfe man die Auswirkungen von institutioneller Diskriminierung nicht außer Acht lassen, betonte sie. Alshalaby schilderte, wie schwierig es für Menschen sein kann, wenn sie jeden Tag das Gefühl haben, verletzt und beleidigt worden zu sein. Man sollte das Thema nicht überstrapazieren, meinte Fink, es handle sich oft um normale zwischenmenschliche Probleme. Er halte es für wichtig, dass man eine neutrale Vermittlungsperson, eine Integrationsbeauftragte, habe und dass die Führungskräfte für die Themen Rassismus und Diskriminierung sensibilisiert sind und bei einem Problemfall schnell reagieren.
Stimmen aus dem Publikum
Eine Dame aus dem Publikum äußerte ihr Unverständnis dafür, dass man - während man mühevoll Arbeitskräfte im Ausland anwerbe - hier lebenden Migranten den Zugang zu Arbeit und Ausbildung oft verweigere, und dass man zulasse, dass studierte Ärztinnen in Deutschland als Reinigungskraft arbeiten.
Auf die Frage des Kreisboten, welche Auswirkungen die immer stärker werdende migrationsskeptische und teilweise migrantenfeindliche Stimmung in Deutschland haben kann, antwortete Palenga-Möllenbeck: „Es wird wirklich problematisch, wenn sich die politische Lage so weiterentwickelt.“ Auch die Politik der EU sei darauf ausgerichtet, dass man Arbeitskräfte und nicht Menschen zur Einwanderung animiere. Hillmann erzählte von Gesprächen mit Professorenkolleginnen und -kollegen aus dem Ausland: „Sie merken deutlich, wie die Bemühungen der letzten Jahre in Deutschland sehr schnell zunichtegemacht werden.“ Es spreche sich rasch herum, wie hier mit Menschen umgegangen werde und wie die Stimmung sei. „Es ist gefährlich, was sich im Moment einschleicht.“ Fink merkte von der Seite des Praktikers an: „Wenn die Politik die rechtlichen Bedingungen noch schwieriger gestalten würde, das wäre für uns eine Katastrophe.“
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