Frauen-Aktionstage Kempten: Welche Bedeutung haben die Unterschiede zwischen Frau und Mann in der Medizin?

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Gemeinsam informierten und diskutierten sie über das Thema „Geschlechtsspezifische Medizin“: Prof. Dr. med. Susanna M. Hofmann, Katharina Simon und Marion Chenevas-Paule (v. l.). © Mair

Beim letzten Bewegten Donnerstag im Kempten-Museum drehte sich alles um das Thema „Geschlechtsspezifische Medizin“ – auch „Gendersensible Medizin“ genannt.

Kempten – Es handelt sich dabei um die besondere Beachtung der biologischen und psychosozialen Unterschiede von Frau und Mann in der Gesundheitsforschung, mit der die bestmögliche medizinische Unterstützung gewährleistet werden soll.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Katharina Simon, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Kempten. Als Expertin war Prof. Dr. med. Susanna M. Hofmann aus München geladen. Sie ist eine international anerkannte Medizinerin und Wissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt auf kardiometabolischen Erkrankungen. Des Weiteren ist sie Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin.

Unterstützt wurde sie von Marion Chenevas-Paule. Sie hat einen Master in Internationalen Beziehungen und Public Health und beschäftigt sich beruflich mit gesundheitlicher Chancengleichheit und Gerechtigkeit in der medizinischen Versorgung, sowie mit Gesundheitsförderung und Prävention. Seit 2014 ist sie im Gesundheitsreferat München tätig als Abteilungsleiterin im Geschäftsbereich Gesundheitsplanung.

Forschung und Entwicklung der geschlechtssensiblen Medizin

Frauen leben momentan im Durchschnitt fünf Jahre länger als Männer. Allerdings verbringen sie auch mehr Jahre in Krankheit und Behinderung. Somit haben sie zwar ein längeres Leben, die Qualität ist aber nicht so gut. Doch ein Forschungsprojekt von Prof. Dr. Marc Luy, einem deutschen Bevölkerungswissenschaftler, hat gezeigt, dass Mönche eine noch höhere Lebenserwartung haben, ohne vermehrte Krankheiten. Die Erkenntnis daraus ist, dass nicht allein die Genetik, sondern auch die Lebensumstände für unser Alter verantwortlich sind.

Um jedem Geschlecht die bestmögliche medizinische Versorgung zukommen zu lassen, ist es entscheidend, dass auch Frauen in klinischen Studien angemessen vertreten sind. Denn Frauen unterscheiden sich von Männern in vielen Aspekten. Prof. Hofmann erklärt, dass diese Unterschiede zum einen durch unser biologisches Geschlecht, das heißt durch unsere Chromosomen, zum anderen aber auch durch das soziokulturelle Geschlecht, wie zum Beispiel die Lebensumstände, Ernährung, Selbstwahrnehmung, entstehen.

Der Unterschied

Biologisch betrachtet gibt es Unterschiede im Fettstoffwechsel und auch beim Diabetes-Risiko. So hat, laut Hofmann, eine an Diabetes erkrankte Frau ein siebenfach höheres Risiko für eine Herzerkrankung als ein Mann. Auch die Symptome eines Herzinfarktes sehen beim weiblichen Geschlecht anders aus. Wenn man Covid-19 betrachtet, hatten Frauen eine 15 Prozent höhere Infektionsrate, Männer aber gleichzeitig ein zweifach höheres Sterberisiko. Nicht zu vergessen ist die Menopause. Sie nimmt ein Drittel der weiblichen Lebenszeit ein und bringt, durch den rapiden abfallenden Hormonspiegel, viele Beschwerden mit sich.

Je länger wir aber leben, umso wichtiger sei es, auch die soziokulturellen Umstände zu betrachten, erläutert Hofmann. Regelmäßig Sport treiben, sich gesund ernähren, Stressausgleich zu schaffen, all das sind Beispiele, die unsere Lebenserwartung positiv beeinflussen.

Forderungen der Expertin

Die Forschungsergebnisse beziehen sich aber nicht nur auf die Diagnostik, sondern natürlich auch auf die Medikation. Medikamente werden in der Regel bei Frauen und Männern gleich hoch dosiert, doch auch hier unterscheiden sich die Geschlechter. Dass die Dosierung bereits in der Entwicklungsphase an den entsprechenden Organismus angepasst werden muss, erläutert die Expertin an zwei Schlafmittel-Präparaten. Letztendlich wird deutlich, dass das Geschlecht als Gegenstand der Forschung zu einer Selbstverständlichkeit werden muss.

Einblicke in die Praxis

Doch was und wie kann man all das erworbene Forschungswissen in der Praxis umsetzten? Marion Chenevas-Paule stellte hierzu ihre Arbeit vor. Basis für die Frauengesundheitsbewegung war die Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre, berichtete sie. Ziel damals war es, die Deutungsfreiheit über den eigenen Körper wieder zu gewinnen. In der Schulmedizin gab es hauptsächlich Männer, die auch über die Gesundheit der Frauen bestimmt hatten. Viele weibliche Lebensphasen wie Pubertät, Schwangerschaft oder Wechseljahre waren daher stark von Medikamenten geprägt und dazu sollte Abstand gefunden werden.

Ähnlich sind auch die Leitgedanken der Fachstelle für Frauengesundheit und Gendermedizin, die Chenevas-Paule leitet. Selbstbestimmung über den eigenen Körper zu ermöglichen und zu stärken, vorhandene Ressourcen zu nutzen und an diesen anzuknüpfen und geschlechtsspezifische Zuschreibungen zu reflektieren, sind nur einige davon. Sie versucht auf kommunaler Ebene, Probleme und Lücken in der Gesundheitsversorgung zu erkennen, diese gründlich zu analysieren, zu benennen und sie schließlich in die Praxis zu kommunizieren. Dies geschieht unter anderem über die Erhebung und Benennung von Handlungsfeldern, die Information und Sensibilisierung der (Fach-) Öffentlichkeit, durch Netzwerkarbeit und durch die Konzeptionierung und Umsetzung von Maßnahmen.

Aktuelle Themenfelder geschlechtsspezifischer Medizin

Themenfelder sind zum Beispiel Kultur- und gendersensible Notfallversorgung, Akutversorgung nach sexueller Gewalt, Genitalverstümmelung, häusliche Gewalt, Gesundheit rund um die Geburt, Herzgesundheit, Knochengesundheit und noch vieles mehr. Ein aktuelles Projekt hierzu ist „Culture, Sex & Gender in der Notfallmedizin“. Es beinhaltet regelmäßige Schulungen von Erstversorgern in der Notfallmedizin im Hinblick auf geschlechter- und kultursensible Aspekte.

Außerdem wurde ein Leitfaden für medizinische Fachkräfte zum Thema „Weibliche Genitalverstümmelung“ erstellt und ein weiteres Projekt widmet sich der Akutversorgung nach Vergewaltigungen – um nur einige zu nennen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Marion Chenevas-Paule mit ihrer Arbeit die gesundheitliche Lage von Frauen und Mädchen in München und Umgebung, unter der Berücksichtigung erworbenen Forschungskenntnisse, verbessert.

Eigenverantwortliches Handeln für die Zukunft

In der Podiumsdiskussion, so wie im Gespräch mit dem Publikum, sind die Expertinnen noch detaillierter auf ihre Vorträge eingegangen. Insgesamt gebe es eine positive Entwicklung, sind sich beide einig. Die Bedeutsamkeit einer gendersensiblen Gesundheitsversorgung werde zunehmend anerkannt und es gibt mittlerweile ein breites Spektrum an Angeboten für alle Lebensphasen von Frauen.

Darüber reden

Allerdings gebe es noch enorme Defizite von Frauen in medizinischen Führungspositionen. Positiv wiederum sei, dass es ab diesem Jahr eine systematische Verankerung der Thematik im Medizinstudium gibt. Enorm wichtig sei es auch, dass die Politik in dieser Hinsicht weiter aktiv bleiben und werden muss. Fazit des Abends war, dass schon viel erreicht wurde. Hofmann und Chenevas-Paule appellierten jedoch an jeden einzelnen, eigenverantwortlich zu handeln – den Mut zu haben, mit den eigenen Ärzten dieses Thema anzusprechen, erworbenes Wissen an Bekannte weiterzugeben und die Motivation zu zeigen, auch Zeit in die eigene Gesundheit zu investieren.

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