Ist das gerecht? Die Wehrpflicht-Debatte birgt eine große, bittere Wahrheit
Wehrdienst, das heißt: Armeezeit im Dienst für Deutschland, bei schlechter Bezahlung, denn es handelt sich nicht um einen Beruf, sondern um einen Dienst. Der Wehrsold lag bis 2011 – bis dahin gab es die Wehrpflicht – bei 12,18 Euro für einen Gefreiten. Pro Tag, nicht pro Stunde. Macht 267,96 Euro, bei unterstellten 22 Tagen im Monat.
Mit anderen Worten: Die Wehrpflicht war teuer – nicht nur für den Steuerzahler, der Kasernen bauen und unterhalten musste etc., sondern mehr noch für jeden Einzelnen.
Die unbarmherzige Rechnung geht so: Weil, sagen wir, ein Jahr für das Gemeinwesen, investiert und tatsächlich nur mit einer Art Aufwandsentschädigung „entlohnt“ wird, geht jedem Wehrpflichtigen ein Erwerbsjahr verloren. Oft genug ist es das Jahr mit dem höchsten Lebenszeitverdienst.
Modell sieht Musterung vor - aber nicht für alle Jungen
Wenn die Politik will, dass es wieder Wehrpflichtige gibt, wird sie ihnen diese – materielle – Wahrheit kaum vorenthalten können. Wird heute darüber geredet? Nein.
Das von der Regierung verabschiedete Modell sieht eine Musterung für alle Jungen vor – wirklich für alle? Nein – nur für die Hälfte. Denn: Mädchen werden nicht gemustert. Nicht einmal das. Junge Männer müssen sich mit dem Wehrdienst auseinandersetzen, junge Frauen nicht.
Im Moment verhindert das Grundgesetz eine Wehrpflicht von Frauen. Sie zu mustern, also auf ihre Wehrtauglichkeit hin zu beurteilen, verhindert das Grundgesetz nicht. Trotzdem ist es nicht vorgesehen.
Wird heute darüber geredet? Ja, aber allenfalls abstrakt. Früher galt als Argument gegen die Frauenwehrpflicht, man könne ihnen nicht ein Jahr Lebenszeit wegnehmen, denn: Sie kümmerten sich schließlich um die Kinder, was gleichfalls ein Dienst in der Gemeinschaft sei. Nur:
Es geht auch um Geschlechtergerechtigkeit
Heute hat sich ein anderes gesellschaftliches Leitbild etabliert – das der Gleichheit von Frauen und Männern, bei der Kindererziehung wie der Erwerbstätigkeit. Beide Geschlechter haben beispielsweise Anspruch auf Erziehungsgeld – wie sollte sich dann eine Bevorzugung der Frauen noch rechtfertigen lassen?
Mit anderen Worten: Es geht um soziale Gerechtigkeit, durchaus materiell, aber es geht auch um Geschlechtergerechtigkeit. Wird darüber geredet? Allenfalls am Rande. Aber wie sieht es überhaupt aus mit der Wehrbereitschaft?
Eine Mehrheit der Deutschen ist laut Umfragen dafür, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Das klingt erst einmal gut, nur: Weniger als 40 Prozent würden Deutschland mit der Waffe verteidigen. 16 Prozent haben bei einer Forsa-Umfrage für das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" (RND) geantwortet: „Auf jeden Fall“, weitere 22 Prozent: „wahrscheinlich“. Klar „Nein“ sagten hingegen 59 Prozent der Männer. Und sogar 72 Prozent der Frauen.
Aber gibt es überhaupt genug Kämpfer?
Das sorgt für einen desillusionierenden Befund: Noch nie hat der deutsche Staat so viel Geld für Landesverteidigung ausgegeben wie heute, aber: Gibt es überhaupt genug „Kämpfer“?
Wobei: Die Umfrage-Frage war ja noch empfindsam gestellt – also unrealistisch. Realistisch bedeutet, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, für Deutschland sein Leben zu riskieren. Dies wurde nicht einmal gefragt.
Es handelt sich allein bei der Frage um eine Zumutung, nur: Eine, die nicht in der Theorie verankert ist, sondern in der Wirklichkeit. Wird darüber geredet? Ein wenig, in Talkshows vielleicht, sicher nicht in der Politik, überhaupt nicht im Parlament.
Bei Markus Lanz hat der scheidende grüne Ex-Spitzenpolitiker Robert Habeck eine weitere Gerechtigkeitsdebatte aufgemacht. Auf die Frage, ob er selbst im Fall eines Angriffs auf Deutschland kämpfen würde, antwortete Habeck: „Ja.“ Und: „Jedenfalls lieber als meine Söhne.“
Es gibt ein Angstloch
Es war die Antwort eines Vaters von vier Söhnen – die er im Zweifelsfall schützen möchte. So oder so ähnlich dürfte in den meisten Familien über das Thema diskutiert werden – angesichts täglicher Kriegsmeldungen aus der europäischen Nachbarschaft in der Ukraine.
Wobei das Ukraine-Argument als Bedrohung der Deutschen so gut wie keine Wirkung hat. Der parteiübergreifende Hinweis von den sogenannten Mitte-Parteien, in der Ukraine werde die Freiheit Deutschlands verteidigt, verfängt allenfalls abstrakt – auf einer intellektuellen Ebene.
Auch die tagtäglichen Bedrohungen Deutschlands durch Russland, die unter „Cyberangriff“ firmieren, verfangen nicht als Mobilisierungsinstrument in der deutschen Bevölkerung. Es gibt ergo einen erkennbaren Abstand zwischen den Bedrohungsmeldungen durch Politiker und Militärexperten und dem Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung. Wie soll man das nennen? Vielleicht so: Es gibt ein Angstloch.
270.000 Auswanderer wollen schon mal nicht Deutschland verteidigen
Wird darüber geredet? Auf dem politischen Terrain nicht. Die Frage wird ab und an erörtert auf social Media. Aber im Parlament – Fehlanzeige. Und dann ist da noch die politisch gravierendste Frage: Lohnt es sich, Deutschland zu verteidigen?
Genauer: Lohnt es sich, dieses Deutschland zu verteidigen? Die Antwort, die die Auswanderer darauf geben, deren Zahl noch nie so hoch war wie gerade, an die 270.000 Menschen, im Jahr, ist jedenfalls eindeutig: sicher nicht. Es sind gerade die Ambitionierten, die wegwollen, oder die Arrivierten – Menschen, die noch etwas erreichen wollen und solche, die schon etwas erreicht haben im Leben.
Wird darüber geredet? Kaum ein Thema spielt derzeit in vielen Privatgesprächen eine größere Rolle – so jedenfalls – meine – private anekdotische Referenz. In der Politik? Nicht in der „Mitte“.
Die Stimmung in Deutschland ist schlecht
In Social-Media-Foren kann man mitlesen, wie sich Junge schon durch Corona um einen Teil ihrer Lebenszeit betrogen fühlen. Längst hat sich bei ihnen herumgesprochen, dass ihre Rente kaum sicher sein wird. Und waren die Bedingungen jemals so schwierig für jene, die ihr eigenes Geschäft in Deutschland hochziehen möchten?

Wann war die Steuer- und Abgabenlast in der Geschichte je so hoch wie heute? Sicher - die Steuersätze waren auch schon mal höher – aber zu früheren Zeiten wurde der Spitzensatz auch nur von der S-Klasse gezahlt – und nicht schon vom VW-Passat-Mittelstand.
Kurzum: Die Stimmung in Deutschland ist schlecht und wird gerade schlechter. Und damit sind die Zeiten denkbar ungünstig, von den Bürgern mehr Mithilfe zu verlangen – selbst bei der Organisation ihrer eigenen Sicherheit. In einem Satz: Leistung (von den Bürgern) kann nur erwarten, wer (als Politik) auch Leistung abliefert.
Das Problem, wenn selbst Ukrainer ihr Land nicht verteidigen
Wird darüber geredet? Auf der politischen Bühne gerade nicht. Schließlich: Vor dem Ukraine-Krieg sind zehntausende Ukrainer geflohen. Dazu gibt es unterschiedliche Zahlen, es sind alles Schätzungen. Der Deutschlandfunk hat berichtet, in Europa hielten sich 600.000 ukrainische Männer im wehrdienstfähigen Alter auf, 200.000 von ihnen in Deutschland. Woraus sich diese Frage ergibt:
Ist es okay, Deutsche zu rekrutieren, eventuell auch für die Absicherung eines – naturgemäß – wackligen Friedens in der Ukraine, wenn Ukrainer selbst nicht bereit sind, ihre Heimat zu verteidigen? Man braucht jedenfalls nicht besonders viel Fantasie, um sich die Problematik einer solchen Argumentation unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten auszumalen.
Wird darüber geredet? In der Politik hinter dem Vorhang. Ein letztes: 40 Prozent der Grundschüler in Deutschland sind Migranten oder haben Migrationshintergrund – die meisten von ihnen kommen nicht aus abendländischen Kulturen.
Dienst fürs Vaterland müsste wieder selbstverständlich werden
Konstruktiv gewendet: Was kann bei der Integration unternommen werden, dass diese größer werdende soziale Gruppe mit der Volljährigkeit bereit sein wird, Deutschland als ihr Land anzusehen, das sie gegen einen Angriff von außen unter Einsatz ihres Lebens verteidigen würden? Wird darüber geredet? Nein.
Schon zu meiner Zeit – Jahrgang 1960 – war Wehrbereitschaft keine Selbstverständlichkeit mehr. Aber dass man dem Gemeinwesen Lebenszeit zugestand, ob bei der Bundeswehr oder im Zivildienst, das war dann doch noch selbstverständlich.
Spätestens mit der Abschaffung (tatsächlich: der Aussetzung) der Wehrpflicht ist diese Selbstverständlichkeit weg. Der Dienst für das Vaterland müsste erst wieder selbstverständlich werden. Auch der für das Mutterland. Man müsste also erst einmal - empathisch, gekonnt – über eine Selbstverständlichkeit reden, die längst keine mehr ist: Patriotismus. Wird darüber geredet?
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine lässt in Europa die Alarmglocken schrillen. Vom 1. Januar 2026 an gilt ein neues Wehrdienstmodell, das in der Wiedereinführung der Wehrplicht münden kann. Wären Sie bereit, Deutschland mit der Waffe zu verteidigen, oder würden Sie eher den Kriegsdienst verweigern? Schreiben Sie uns unter dem Stichwort "Wehrpflicht" an Mein-Bericht@focus.de, warum Sie dienen würden oder nicht.