Pseudo-Wehrpflicht und Feigheit der Koalitionäre: Ein zorniger Zwischenruf
Vor fast genau dreieinhalb Jahren überfiel Russland die Ukraine, seither sind dort rund eine Million Menschen getötet oder verwundet worden, mindestens sieben Millionen vertrieben oder geflüchtet und Sachschäden von rund 500 Milliarden Euro angerichtet worden. Die „Zeitenwende“ wurde ausgerufen, aber immer wieder vertagt.
Und da ist sie nun doch, die große Reform: Die kleinste, aber ambitionierteste „Große Koalition“ aller Zeiten unter Bundeskanzler Merz, hat endlich die federführend im Hause von Verteidigungsminister Pistorius erarbeitete Wehrdienst-Reform vorgelegt. Damit will Deutschland nun wirklich abschrecken und wieder „kriegstüchtig“ werden, wie Boris Pistorius schon in der vorherigen Legislatur formuliert hatte.
Vom „schwedischen Modell“ war die Rede, vom Wiedereinstieg in die Wehrpflicht und von entschlossenem Handeln als Antwort auf wachsende Kriegsgefahren. Doch was ist herausgekommen? Der Berg kreiste und gebar ein Mäuschen, so muss man wohl schonungslos konstatieren.
Ist die Zeitenwende in den Politikerköpfen wirklich angekommen?
Die Personallücke der Bundeswehr ist riesig. Dem Ziel von 260.000 Soldaten steht ein Ist von 170.000 gegenüber. Seit fast 15 Jahren geht das so. Ein paar Tausend mehr kommen, und ein paar Tausend gehen alljährlich wieder.
Nun aber gibt es Post vom Minister: Junge Männer müssen antworten. Und ansagen, ob sie freiwillig dienen wollen, also ob sie darauf nicht von allein gekommen wären, wenn sie es denn wollten. Junge Frauen werden nur angeschrieben.
Ab 2027 dann soll es womöglich zur Wiedereinführung von Musterungen kommen, nur für Männer. Und wenn bis dahin die Truppenstärken nicht gestiegen sind, dann würde ein Parlamentsbeschluss zur Wiedereinführung einer wirklichen Wehrpflicht erwogen, denn die personelle Vollausstattung müsse natürlich erreicht werden.
Ist die Zeitenwende in den Köpfen unserer Politiker wirklich angekommen?
Schnupper- und Postkartenwehrpflicht
Gewiss, es werden ungeheure Geldsummen in die Hand genommen. Aber wo sind die Soldaten, die alle diese in immer größeren Mengen ins Haus stehenden Waffensysteme bedienen sollen?
Manche, auch der Minister Pistorius, sprechen schon von 2028 oder 2029 als konkrete Prophezeiung für das Jahr, in dem Russland unsere bislang verteidigungsunfähige Republik angreifen könnte. Und nun soll es die Schnupper- oder Postkartenwehrpflicht richten?
Es gibt keinerlei Grund zu der Annahme, dass nun auf einmal, im vierten oder fünften Jahr des Ukraine-Krieges, die Freiwilligen zu Zehntausenden in die Karriere-Center der Bundeswehr strömen werden. Überall gibt es bequemere, oftmals besser bezahlte Jobs, bei denen nicht zu erwarten ist, im Extremfall getötet zu werden oder Menschen töten zu müssen.
Woher kommt also der hoffnungsvolle Glaube, dass auf einmal ohne konkretes Zutun alles irgendwie und wundersamer Weise „freiwillig“ anders wird? Darauf gibt es im Amtspapier keine Antwort, weil es keine gibt.

Was Schwachsinn, Einstein und Bundeswehr gemeinsam haben
„Schwachsinn“ sei, so wird es Albert Einstein zugeschrieben, immer wieder das Gleiche zu versuchen und zu erwarten, dass andere Ergebnisse eintreten. Es wäre unfair, all das alleine dem Minister Pistorius, Deutschlands beliebtestem Politiker vorzuhalten.
Der Mann hat durchaus Verdienste und hat die von seinen drei Vorgängerinnen in desolatem Zustand übernommene Bundeswehr ein Stück weit wieder auf Kurs gebracht.
Am Ende gerät auch Pistorius Reform zum Reförmchen
Doch immer, wenn es um die substanzielle, große Reform geht, dann hat Pistorius sich dem Kleinklein der Lobbygruppen innerhalb und außerhalb der Streitkräfte, aber auch vor seinen Parteilinken, gebeugt. Seine Strukturreform entpuppte sich als Reförmchen, und die Wehrpflicht-Vorlage fällt ebenso in diese Kategorie.
Es ist schon jetzt überdeutlich: So können und werden wir nicht verteidigungsfähig werden, in Deutschland nicht und nicht in Europa. Es ist der Geist des Unernstes, der Realitätsverweigerung und, ja, der Feigheit vor dem Bürger, wenn einerseits vom kommenden Krieg in wenigen Jahren gesprochen wird und gleichzeitig die notwendige personelle Ausstattung unserer Streitkräfte nicht auf den Weg gebracht, sondern wieder einmal um Jahre vertagt wird.
Und wie in fast allen Politikfeldern ist das Land weiter als seine Politiker, denn jede bekannte Umfrage ergibt klare Mehrheiten pro Wehrpflicht im ganzen Land, und das selbst unter den jungen Leuten.
Schon wieder ein Wegducken der Politiker vor der Verantwortung
Wir erleben erneut ein Wegducken vor der Verantwortung. Die letzte Verantwortung dafür aber trägt in erster Linie der Regierungschef dieser Koalition, der mit großen Ankündigungen antrat, aber die Dinge offenkundig laufen lässt. Doch im Ausland, und sicher nicht zuletzt in Russland, beobachtet man bis ins Detail, was die Europäer machen und insbesondere Deutschland tut.
Tun wir weiter so wenig Ernsthaftes für unsere Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit, dann müssen wir wirklich damit rechnen, dass es Ernst wird: „Es kann sein, dass Du Dich (auch weiter) nicht für den Krieg interessierst - aber er interessiert sich für Dich“, schrieb schon der russische Revolutionär Leo Trotzki.
Wer nicht rüstet und nicht abschreckt, der wird irgendwann genau das erleben und erleiden müssen, was er so gerne vermeiden möchte: Krieg und die Ohnmachtserfahrung der Wehrlosigkeit. Wenn diese Koalition so weitermacht, muss man sagen: Von der Geschichte gewogen und für zu leicht befunden.
Der Autor ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt am Strategiezentrum CASSIS der Universität Bonn.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine lässt in Europa die Alarmglocken schrillen. Vom 1. Januar 2026 an gilt ein neues Wehrdienstmodell, das in der Wiedereinführung der Wehrplicht münden kann. Wären Sie bereit, Deutschland mit der Waffe zu verteidigen, oder würden Sie eher den Kriegsdienst verweigern? Schreiben Sie uns unter dem Stichwort "Wehrpflicht" an Mein-Bericht@focus.de, warum Sie dienen würden oder nicht.