Der Freiherr fuhr Kraftrad: Ein Blick ins „Automobil-Adreßbuch“ von 1909
Es ist die erste Quelle, die Aufschluss über Kfz-Besitzer Anfang des 20. Jahrhunderts gibt: Im „Automobil-Adreßbuch“ von 1909 finden sich vier Wolfratshauser.
Wolfratshausen – Blechkarossen, die Stoßstange an Stoßstange durch Innenstädte schleichen: Das haben sich unsere Ahnen vor gut 100 Jahren nicht so ausgemalt. Zu jener Zeit waren benzinbefeuerte Vehikel Exoten, wie ein Blick in das „Automobil-Adreßbuch“ von 1909 belegt. Weniger als eine Handvoll Kraftfahrzeuge sind darin für den damaligen Markt Wolfratshausen aufgelistet. Zum Vergleich: Derzeit sind in Deutschland mehr als 49 Millionen Kfz angemeldet, davon exakt 109 142 (Stand 31. Dezember 2024) im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Zugegeben, der Vergleich hinkt, denn das Deutsche Kaiserreich hatte eine ganz andere territoriale Ausdehnung als die Bundesrepublik – eine Volkszählung im Jahr 1910 ergab rund 64,9 Millionen Einwohner.
Mechaniker Dietz fährt „Wagen zu Berufszwecken“
Ein Buch, in dem jedermann in Deutschland penibel erfasst ist, der ein Motorrad, einen Pkw oder einen Lkw sein Eigen nennt: Für die Bände wären etliche Regalmeter vonnöten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah das anders aus: Das „Deutsche Automobil-Adreßbuch“ aus dem Jahr 1909 – basierend auf dem amtlichen Material der damaligen Behörden – hat 1210 Seiten und ist die erste Quelle, die alle Halter namentlich aufführt, die im Deutschen Reich ein Kfz besaßen. Erst 1885 hatte der Karlsruher Ingenieur Carl Benz das Auto erfunden, den Patent-Motorwagen Nummer 1. Für das Gros der Menschen war ein Automobil in den Anfangsjahren unerschwinglich, die Vierräder waren oft handwerklich hergestellte Einzelstücke – und entsprechend teuer. Laut besagtem Adressbuch besaß 1909 genau genommen nur der Wolfratshauser Mechaniker Nikolaus Dietz „einen Wagen zu Berufszwecken“. Josef Freiherr von Aretin, seit 1904 Vorstand der landwirtschaftlichen Kreiswinterschule in Wolfratshausen, musste sich mit einem Kraftrad begnügen – dasselbe galt für den Landwirtschafts-Assistenten Heinrich Burghard und den Mechaniker Anton Eggler.

Geschichte wiederholt sich: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Automobil nicht sonderlich beliebt, denn es machte Staub und Lärm und verursachte Unfälle. Davon zeugt ein Fotodokument im Stadtarchiv Wolfratshausen aus der Sammlung Fritz Bauereis. Das zeigt einen Benz, der sich Anfang der 1930er-Jahre im Bereich des Bergkramerhofs überschlagen hatte. Auf der anderen Seite ließen sich Kfz-Besitzer stolz in ihrem neumodischen Gefährt ablichten: Wie 1930 der „Postbräu-Sepperl“, mit bürgerlichem Namen Josef Mayer, nebst Ehefrau und Töchterlein Resi in seinem Peugeot vor dem ehemaligen Postbräu am Obermarkt 14.
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Da die Zahl der Verkehrsunfälle rasch zunahm, war das Adressbuch nicht zuletzt für die Polizei interessant. Neben dem Namen und dem Wohnort der Kraftfahrer enthielt die Auflistung das jeweilige Kfz-Kennzeichen. Die Blechschilder an den Gefährten der vier Wolfratshauser trug die Kennzeichnung II b, es folgten arabische Ziffern, mit denen die Kfz der Einfachheit halber durchnummeriert wurden. Um dem Wildwuchs Einhalt zu gebieten, trat am 3. Mai 1909 das „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ in Kraft. Das regelte unter anderem die Beschaffenheit der Fahrzeuge („zuverlässige Lenkvorrichtung“, „zwei voneinander unabhängige Bremseinrichtungen“, „Hupe und Laternen“) und schrieb vor, wie das polizeiliche Kennzeichen auszusehen hatte: „Das vordere Kennzeichen ist in schwarzer Balkenschrift auf weißem, schwarz gerandetem Grunde auf die Wandung des Fahrzeugs oder auf eine rechteckige Tafel aufzumalen.“ Gleiches galt fürs Schild am Heck.
Im Adressbuch findet sich kein Hinweis, mit welchem Fabrikat die Herren Dietz, von Aretin, Burghard und Eggler unterwegs waren. Gut möglich ist, dass anno dazumal neben dem Quartett auch andere Bürger des Markts Wolfratshausen über ein Kfz verfügten. Nicht immer übermittelten die lokalen Behörden zuverlässig alle Daten an die Verfasser der Auflistung.
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Marktgemeinde Wolfratshausen erhebt „Pflasterzoll“
Dagegen erkannten die Behörden die neuartigen Fortbewegungsmittel rasch als Einnahmequelle, schon 1905 wurde die sogenannte Pflasterzoll-Ordnung für den Markt Wolfratshausen erweitert: „Für drei- und mehrrädigere Motorfahrzeuge ist ein Pflasterzoll zu entrichten – und zwar 24 Pfennig für Güterfahrzeuge und 20 Pfennig für Personenfahrzeuge.“ Zu entrichten war die Abgabe jeweils bei Ein- und Ausfahrt aus der Marktstraße. Wie die 2021 verstorbene Leiterin des Stadtarchivs, Marianne Balder, recherchierte, waren die Autofahrer von der Zwangsabgabe wenig erbaut. Denn nach jedem Stopp, um den Pflasterzoll zu bezahlen, mussten sie den Motor ihres Wagens wieder neu ankurbeln – Anlasser gab es noch keine.
Bayern bremst Raser ein – es drohen saftige Strafen
Wie gesagt, Geschichte wiederholt sich: 1902 sah sich die Obrigkeit in Bayern genötigt, die Raser auf den Straßen einzubremsen. Die Fahrgeschwindigkeit „darf innerhalb der Ortschaften zwölf Kilometer in der Stunde nicht überschreiten“. Wer die Marktgemeinde Wolfratshausen hinter sich gelassen hatte, durfte das Tempo außerhalb der geschlossenen Ortschaft – „wenn übersichtliche Wege befahren werden“ – nach Gutdünken erhöhen. Aber: „Dort, wo lebhafter Verkehr stattfindet, muss so langsam gefahren werden, dass das Fahrzeug nötigenfalls sofort zum Halten gebracht werden kann.“
Temposündern drohten übrigens schon vor gut 100 Jahren saftige Strafen – „bis zu 60 Mark oder bis zu 14 Tagen Haft“. cce
Das „Deutsche Automobil-Adreßbuch“
Das „Deutsche Automobil-Adreßbuch“ aus dem Jahr 1909 zählt zum Bestand der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Braunschweig und wurde 2014 eingescannt und digital verfügbar gemacht. Allerdings waren die Daten damit noch nicht online durchsuchbar und strukturiert. Das erledigten 2019 Mitglieder des Vereins für Computergenealogie (CompGen). Mit einer für solche Zwecke konzipierten Software tippten Freiwillige die Einträge ab und speicherten das Ergebnis in einer Datenbank.
Auf dem Krad beziehungsweise hinterm Steuer saßen vor gut 100 Jahren vor allem Männer. Nur vereinzelt tauchen Frauen in dem „Adreßbuch“ auf, zum Beispiel Elisabeth Trincks, eine Witwe in Hamburg. Seit 1909 haben sich die Zeiten geändert: Laut Kraftfahrzeug-Bundesamt in Flensburg besaßen am 1. Januar 2024 mehr als 22,8 Millionen Frauen in Deutschland einen Führerschein – und 28,3 Millionen Männer.