Fast 400 Jahre Treffpunkt für Naschkatzen: Jetzt gibt‘s eine „Häusergeschichte“

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29. November 2024: (v. li.) Wolfratshausens Vize-Bürgermeister Günther Eibl, Museumsleiterin Annekatrin Schulz, Martin Melf, Leiter des Rathaus-Referats Bildung und Soziales, Stadtbüchereileiterin Silke Vogel, Mary und Sohn Fabio Faganello, Hauseigentümerin Magdalena Hagn, Maurizio Faganello und Rathauschef Klaus Heilinglechner vor dem Eiscafé Cristallo am Obermarkt 12. © Sabine Hermsdorf-Hiss

„Häusergeschichten“ heißt die neue Reihe der Stadt Wolfratshausen. Den Beginn markiert das Gebäude am Obermarkt 12, das seit 35 Jahren das Eiscafé Cristallo beheimatet.

Wolfratshausen – Das Gebäude am Obermarkt 12 war schon vor fast 400 Jahren eine Anlaufstelle für Naschkatzen. Laut dem frühesten Beleg im Stadtarchiv war das Haus anno 1630 die Arbeitsstätte eines von damals zwei Lebzeltern, eines Lebkuchenbäckers. Seit dem 29. November 1989, am Freitag auf den Tag seit 35 Jahren, betreibt die Familie Faganello an dem geschichtsträchtigen Ort ein Eiscafé. Für die Stadt ein triftiger Grund, ihre neue Reihe „Häusergeschichten“ eben dort zu beginnen: am Obermarkt 12.

Die zwei Lebzelter entrichteten brav Honigwein-Steuer

Recherchiert und die Exponate zusammengetragen haben Stadtarchivleiter Simon Kalleder, Stadtbüchereichefin Silke Vogel, Museumsleiterin Annekatrin Schulz sowie Martin Melf, Leiter des Rathaus-Referats Bildung und Soziales, der die Idee zur „Häusergeschichten“-Reihe hatte. „Vom heute unerschöpflichen Sortiment an Süßwaren konnten unsere Vorfahren nur träumen“, weiß das Quartett. Für die einfache Bevölkerung war neben Obst lange Zeit Honig das einzige Süßungsmittel, das auch für Lebkuchen verwendet wurde. Da im Zunft-System die Berufsgruppen peinlich genau definiert waren, gab es dafür einen eigenen Beruf, den Lebzelter. Der stellte neben Lebkuchen auch Kerzen, Votiv-Figuren aus Wachs sowie Honigwein (Met) her.

Einer von zwei Lebzeltern in der Flößerstadt, die brav ihre Met-Steuer entrichteten, war Christoph Öttl. Als Mitglied des sogenannten Inneren Rates muss er ein ziemlich einflussreicher Mann gewesen sein, sein Wohn- und Geschäftshaus befand sich am Obermarkt 12. Als 1632 – im 30-Jährigen Krieg – die Schweden in Wolfratshausen einfielen, mordeten, brandschatzten und plünderten, stahlen sie ihm sämtliche Met- und Honigvorräte. Bei dem von den Schweden gelegten Brand ging auch sein Haus in Flammen auf. Caspar, der Sohn von Christoph Öttl, hat das Gebäude aber wahrscheinlich zügig wieder aufgebaut. Seinem Konkurrenten Hans Ziegler, der am Untermarkt 3 residierte, erging es bei dem Überfall durch die Nordmänner nicht besser.

Ob die Lebzelterei in den folgenden Zeiten kontinuierlich fortgeführt wurde, lässt sich heute nicht mehr recherchieren. Es gilt als wahrscheinlich, da sich das Haus am Obermarkt 12 ab 1809 im Besitz des Lebzelters Vinzenz Knauer befand. 1861 verkaufte eine Frau Koch es an das Ehepaar Maria und Simon Schiller – samt der Lebzelter- und Bierschankberechtigung.

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Obermarkt 12 in Wolfratshausen
Anno 1925: Das Konditorei-Café von August Hagn am Obermarkt 12. Sein Sohn, Alfred Joseph Hagn, starb im Juni 2020, Eigentümerin der Immobilie ist bis auf den Tag seine Witwe Magdalena (92). © Repro/Sabine Hermsdorf-Hiss

Wann zur Lebkuchenbäckerei der Bierausschank hinzukam, ist nicht überliefert. Ob der Wechsel zum Café bereits von Simon Schiller oder erst von dessen Sohn Ferdinand initiiert wurde, „bleibt mutmaßlich auch ein ewiges Rätsel“, so Kalleder, Vogel, Schulz und Melf. Im Stadtarchiv an der Bahnhofstraße existiert ein Foto aus dem späten 19. Jahrhundert, auf dem über dem Ladeneingang „Consum Verein Wolfratshausen u. Umgebung“ steht. Zudem ist eine Zeitungsannonce von Simon Schiller erhalten, mit der er die Wolfratshauser auf verschiedene, anscheinend sehr temporäre Standorte seiner Lebzelterei und Konditorei aufmerksam machte. Die Familie Schiller blieb Eigentümer des Lebzelter-Hauses. Es kann nur spekuliert werden, dass der Laden an den Konsumverein verpachtet war. Langfristig kann der Pachtvertrag jedoch nicht geschlossen worden sein.

400 Jahre Süßes, vom Lebzelter bis zum Gelatieri – das ist schon eine tolle Geschichte.

1900 übernahm Ferdinand Schiller das Gebäude, das er zwei Jahre später umbauen ließ. Aus dieser Zeit existiert eine Fotografie des Konditorei-Cafés Schiller. 1920 kaufte der aus Freising stammende Konditor August Hagn das Anwesen und den Betrieb. Das Café entwickelt sich rasch zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt, der einen Hauch Noblesse durch die Loisachstadt wehen ließ. In der Folge trat Konditor Alfred Joseph Hagn in die Fußstapfen seines Vaters. Jahre später übernahm einer seiner Angestellten, der schließlich nach Kanada auswanderte, es folgte Familie Grill. Alfred Joseph Hagn starb im Juni 2020, bis auf den Tag ist seine Witwe Magdalena (92) Eigentümerin der prominenten Immobilie.

Familie Faganello setzt Tradition seit 35 Jahren fort

Seit November 1989 führt die Familie Faganello in der Altstadt die Tradition ihrer Vorgänger fort. Den Grundstein für die Eisdiele in der Loisachstadt legte Renato Faganello, der 1964 mit seinem älteren Bruder aus dem norditalienischen Longarone nach Waldkraiburg zog und dort ein Eiscafé eröffnete. Über Chieming am Chiemsee führte Renato Faganellos Weg vor 35 Jahren nach Wolfratshausen. Inzwischen lenken sein Sohn Maurizio und dessen Ehefrau Mary die Geschäfte – mit ihrem ältesten Sohn Fabio stieg 2018 die dritte Generation in den Familienbetrieb ein. „400 Jahre Süßes, vom Lebzelter bis zum Gelatieri – das ist schon eine tolle Geschichte“, schwärmte Maurizio Faganello am Freitag.

Die Ausstellung zur zuckersüßen Historie des Hauses am Obermarkt 12 kann ab sofort im Cristallo betrachtet werden. cce

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