Mitte-Kurs „offenkundig gescheitert“ - Habeck vollzieht seltsame Verwandlung – auch wegen unterschätzter Gefahr von links

Als Robert Habeck am Dienstag im Bundestag ans Rednerpult trat, wunderte sich so mancher politische Beobachter. Der Kanzlerkandidat der Grünen schien wie ausgewechselt: Da stand nicht mehr der Politiker, der mit einem pragmatischen Kurs möglichst viele CDU-Anhänger überzeugen will – sondern einer, der vor allem die Seele eingefleischter Grüner streicheln will. Erst sprach Habeck lange über das Klima, dann über Bildung.

Er hat damit einen radikalen Strategiewechsel vollzogen. Denn noch bevor Habeck offiziell zum Spitzenkandidaten seiner Partei gekürt worden war, tüftelte er an einem Rezept für den Einzug ins Kanzleramt. Die Grünen sollten vor allem diejenigen Wähler ansprechen, denen CDU-Chef Friedrich Merz zu konservativ ist. Die „Merkel-Lücke“ wolle Habeck füllen, hieß es damals.

Das Ziel der Grünen war es, an die Zeit anzuknüpfen, in der Habeck noch Parteivorsitzender war. Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, erinnert im Gespräch mit FOCUS online an die damaligen Erfolge: „Bei der Europawahl 2019 ist es den Grünen gelungen, über das Kernklientel hinaus in der Mitte zu mobilisieren und damit ein Ergebnis von mehr als 20 Prozent zu erzielen.“

Habeck und die Basis: Streit um Migrationspolitik

Lange hielt Habeck seinen Mitte-Kurs durch. Dabei blies ihm immer wieder starker Wind entgegen. Vor dem Grünen-Parteitag im November musste Habeck befürchten, von den Delegierten zu einem linkeren Kurs in der Migrationspolitik gezwungen zu werden. Doch am Ende gelang ein Kompromiss zwischen Realos und linkem Flügel.

Als es beim Parteitag im Januar um das Wahlprogramm ging, stand das Thema erneut im Raum. Diesmal gelang es dem linken Flügel, das Kapitel zur Migrationspolitik in ihrem Sinne nachzuschärfen. Doch Habeck blieb im Sturm stehen und präsentierte nach dem Attentat in Aschaffenburg einen Zehn-Punkte-Plan zur Asylpolitik, der zwar weit entfernt war von den Forderungen der CDU, aber doch Härte demonstrieren sollte.

Damit schien sich zu erfüllen, was einige Grüne schon zuvor erwartet hatten: Selbst wenn die Basis im Wahlprogramm nach links blinke, werde Habeck am Ende den Kurs bestimmen. Allerdings hatten offenbar weder diese Leute noch Habeck selbst mit so lautem Protest der Parteibasis gerechnet. Vor allem die Grüne Jugend schäumte und präsentierte einen eigenen Zehn-Punkte-Plan.

Habecks Mitte-Kurs ist „offenkundig gescheitert“

Plötzlich löschten Parteichefin Franziska Brandtner und andere Social-Media-Posts zum Zehn-Punkte Plan. Das waren Vorboten des Strategiewechsels. In einem ZDF-Interview am Montag schlug Habeck dann andere Töne in der Migrationsdebatte an. Und in der am Mittwoch vonm Kanzlerkandidaten präsentierten „grünen Zukunftsagenda für das erste Regierungsjahr“ wird die Migrationspolitik schließlich nur noch in einem Absatz abgehandelt. An erster Stelle des Papiers steht dafür die „klimaneutrale Erneuerung“.

Das ist auch als Eingeständnis dafür zu sehen, dass Habecks Plan nicht aufgegangen ist. Laut Meinungsforscher Güllner ist Habecks Mitte-Kurs sogar „offenkundig gescheitert“ – was er an den bei unter 15 Prozent stagnierenden Umfragewerten festmacht. Gleich in mehrerlei Hinsicht hätten die Grünen zuletzt eher an erfolglose Zeit vor Habeck erinnert als an dessen Vision einer Volkspartei der Mitte.

Einen Teil der Schuld trage Habeck selbst mit seiner Arbeit als Wirtschaftsminister. „Viele Bürger haben in den Grünen während der Regierungszeit wieder die alte Bevormundungs- und Verbotspartei gesehen. Sie sehen keinen Grund, warum sich das nach der Wahl ändern sollte“, erklärt Güllner. Auch die immer wieder aufbrandenden Flügelkämpfe zwischen Realos und Linken würden an früher erinnern.

Die unterschätzte Gefahr von links

Und noch ein vergessen geglaubtes Problem beschäftigt die Grünen plötzlich wieder. Nachdem CDU und FDP mit der AfD im Bundestag eine Mehrheit gefunden hatten, stieg die Linkspartei in den Umfragen nach langer Zeit wieder an. Auch für Grünen-Anhänger wird sie damit zu einer attraktiven Alternative: Zum einen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Linke in den Bundestag einzieht und eine Stimme für die Partei damit nicht verschenkt ist. Zum anderen gibt es wieder eine aussichtsreiche linke Partei, die, anders als die Grünen, eine Koalition mit der „Tabubruch“-CDU definitiv ablehnt.

Damit könnte zur Realität werden, was schon immer die Schwachstelle an Habecks Kurs war. Forsa-Chef Güllner beobachtet „eine irre Renaissance“ der Linken und warnt die Grünen: „Bewegt Habeck sich zu weit in die Mitte, könnte er auf der anderen Seite Wähler an die Linke verlieren.“ Zumal die Konkurrenz „eine für viele attraktive Mischung anbietet: mit Heidi Reichinnek eine junge Frau, mit Jan van Aken ein bodenständiger Mann sowie schließlich mit den drei Silberlocken Dietmar Bartsch, Gregor Gysi und Bodo Ramelow drei erfahrene und beliebte Politiker.“

Grüne Jugend schweigt zufrieden, Realos sind brüskiert

Habeck und seine Strategen werden das ebenfalls aufmerksam beobachtet haben. Sie wollen jetzt „mit dem Thema Klimaschutz die grüne Kernklientel bedienen, um sie nicht auch noch zu verlieren“, glaubt Güllner. Der Meinungsforscher bezeichnet das als „Defensiv-Strategie“. Möglicherweise sichert die den Grünen immerhin ein Ergebnis, dass in der Nähe der 14,7 Prozent von 2021 liegt – und die Chance auf eine erneute Regierungsbeteiligung von Robert Habeck wahren würde.

Wie aber kommt der Strategiewechsel in der Partei an? Bei der Grünen Jugend, sowohl auf Bundesebene als auch im zuletzt lauten niedersächsischen Landesverband, will sich auf Anfrage niemand mehr zu dem Thema äußern. Das lässt sich durchaus so interpretieren, dass der Parteinachwuchs nach gewonnenem Kampf die Reihen nun wieder schließen will. 

Bei den Realos, die zuletzt gut mit Habecks-Kurs leben konnten, fühlen sich hingegen einige brüskiert vom Linksschwenk. Der sei „riskant und falsch“, sagt ein Politiker zu FOCUS online, auch weil Habecks Rückzieher in der Migrationspolitik dem Kandidaten Glaubwürdigkeit kosten würde. Offenbar fehle Habeck die Kraft und der Mut, um sich vom Gängelband der Basis zu befreien. 

Stilistischer Schwenk: Aus „Team Robert“ wird „Team Habeck“

In Habecks Bundestagsrede am Dienstag war im Übrigen noch ein weiterer Strategiewechsel zu beobachten. Der Kanzlerkandidat trat seriös im Dreiteiler und mit Krawatte ans Rednerpult. Das wäre eigentlich nur eine Randnotiz wert. Doch der Kanzlerkandidat spielt in diesem Bundestagswahlkampf bewusst mit seinem Aussehen.

Robert Habeck
Robert Habeck ist im Bundestag betont seriös mit Dreiteiler und Krawatte aufgetreten. Michael Kappeler/dpa

Als Habeck zu Beginn der Kampagne auf die Plattform X zurückkehrte, war er auf seinem Profilbild brustabwärts zu sehen, die Ärmel seines Hemdes hochkrempelnd. Beim Parteitag und bei den Küchentisch-Gesprächen trug er gar Pullover. Seine Unterstützer sammelten sich in „Team Robert“. All das sollte eine gewisse Lässigkeit und Nahbarkeit ausstrahlen.

Doch Mitte Januar gab es eine zunächst unauffällige Veränderung: Aus „Team Robert“ wurde „Team Habeck“. Und auf seinem neuen X-Profilbild ist der Kanzlerkandidat im Anzug, vor Deutschland- und Europaflagge sowie mit ernstem Blick zu sehen. Das wirkt fast schon präsidial. Womöglich wollten die Grünen damit das Habeck-Image des staatstragenden „Bündniskanzlers“ prägen.

„Bei den Grünen keine stringente Wahlkampfstrategie“

Das passt freilich nun nicht mehr zum neuen inhaltlichen Kurs, mit dem sich Habeck wieder als eingefleischter Grüner verkaufen will. Die inhaltlichen und stilistischen Schwenke wundern auch Meinungsforscher Güllner. Er vermutet: „Sie sind ein Zeichen dafür, dass es bei den Grünen keine stringente Wahlkampfstrategie gibt.“

Die fehlende Stringenz kann man derzeit auch ganz plastisch beobachten: Während die Grünen in ihrer offiziellen Kommunikation nun von „Team Habeck“ sprechen, sieht es im Fanshop noch anders aus. Dort können Anhänger nur die alten „Team Robert“-Pullover kaufen.