
Bildquelle: Andreas Herteux
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"Langzeitarbeitslose mit multiplen Beeinträchtigungen: Wer sie sind. Was sie denken – und was sie beeinflusst. Wie mit ihnen umzugehen ist." von Andreas Herteux.
Ob soziales Pflichtjahr für Ältere, ob Steuererhöhungen oder eine Anpassung des Renteneintritts auf 70 Jahre – medial werden viele Themen diskutiert, die eines bedeuten würden: eine deutliche Mehrbelastung der Bevölkerung, die bereits unter hohen staatlichen Partizipationswünschen an das eigene Einkommen leidet, zumindest teilweise in eine ungewisse ökonomische Zukunft blickt und vor allem in Haftung für politische Fehleinschätzungen genommen wird, deren Auswirkungen immer mehr zu spüren sind.
Nun sind derartige Vorschläge normalerweise erstmal „Testballons“, mit denen die Stimmung für bestimmte Maßnahmen ergründet werden soll. Auf der anderen Seite dienen sie aber auch der Setzung von Narrativen, die eine ganz bestimmte Sicht auf ein Thema schaffen und verankern sollen. Das ist nicht verwerflich, sondern ein bewährtes Mittel politischen Handelns.
Oder wie es schon Gustave Le Bon (1841–1931), der geistige Vater der Bevölkerungspsychologie, ausdrückte: „Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.“
Das mag grundsätzlich richtig sein, jedoch geht der französische Arzt von einer aufnehmenden, sozialtheoretisch fast schon homogenen Masse aus, die so in Deutschland nicht mehr existiert.
Oder prägnanter als These formuliert: Eine deutsche Gesellschaft gibt es nicht mehr – im sozialen Sinne, nicht im rechtlichen. Längst ist sie, und da ist sich die Forschung in großen Teilen sogar erstaunlich einig, in viele kleinere Lebenswirklichkeiten zerbrochen, die alle ihre eigenen Vorstellungen von einem richtigen und guten Leben haben. Eigene Normen und Verhaltensmuster.
Eigene Wege des Denkens. Manche sind hedonistisch und wollen nur konsumieren oder erleben (nach Studien ca. 8 Prozent der Bevölkerung), andere missionarisch die Welt verbessern (ca. 12 Prozent) oder am besten gar nichts verändern (ca. 10 Prozent).
Andreas Herteux ist Wirtschafts- und Sozialforscher, Herausgeber und Autor des Standardwerks zur Geschichte der Freien Wähler (FW) und Gründer der Erich von Werner Gesellschaft. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Es gibt an dieser Stelle genügend Modelle; als Beispiel sei hier das des Sinus-Instituts, auf dessen Erkenntnisse sich die Prozentzahlen beziehen, erwähnt, die es sich zu betrachten lohnt, und doch sind sie in der Regel bereits veraltet, bevor sie veröffentlicht sind, denn die Fragmentierung und Individualisierung ist ein stetiger Prozess, der sich immer schneller fortsetzt.
Die digitale Welt, die das Individuum in den Mittelpunkt rückt und ihn konditioniert, ist ihr unaufhaltsamer Treiber, und am Ende stehen sich – man verzeihe diese etwas vereinfachte Ausdrucksweise – Lebenswirklichkeiten unversöhnlich gegenüber, die jeweils daran glauben, dass ihre Auffassung von Wahrheit absolut ist.
Es beginnt ein gesellschaftlicher Milieukampf, der kaum mehr Kompromisse zulässt, die Bedürfnisse der jeweils anderen marginalisiert und am Ende zu der politischen und gesellschaftlichen Situation geführt hat, die wir heute tagtäglich erleben dürfen.
Für eine Demokratie, die aber genau auf diese Kompromisse angewiesen ist, entsteht eine brandgefährliche Situation.
Besagte Konstellation wird durch den Versuch des angesprochenen Storytellings nicht verbessert, denn die Narrative werden von den völlig unterschiedlichen Milieus immer aus der eigenen Sicht bewertet. Warum sollte es die nostalgisch-bürgerliche Gruppe (ca. 11 Prozent), die in der Regel beruflich tätig ist oder war, unterstützen, die Steuern und Abgaben noch weiter zu erhöhen oder gar den Renteneintritt?
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Fragt sie zu Unrecht, warum es nicht zuerst an die Sozialausgaben des Bundes gehen sollte? Weshalb sollte allerdings ein Mensch aus dem prekären Bereich (ca. 9 Prozent) eine Arbeit aufnehmen, wenn das Bürgergeld doch grundlegende Bedürfnisse abdeckt und die eigene Situation nur schwierig attraktiver gestaltet werden kann? Vielleicht doch den Mindestlohnjob aufgeben?
Was ist überhaupt mit der Integration? Der ökonomischen Perspektive? Dem Mangel an Fachkräften. Wie bekommen wir es hin, dass wir jenen, die wirklich schwach sind, Teilhabe ermöglichen? Wie lässt sich soziale Gerechtigkeit und der Leistungsgedanke künftig verbinden?
Beide Bevölkerungsteile werden nur schwierig auf einen Nenner zu bringen sein. Wie wir daher sehen sind die Fragen vielschichtig und so komplex, dass sie an dieser Stelle nur aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet werden können:
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"Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Neue Erklärungsansätze" von Andreas Herteux
Es gibt in der Summe wohl nur noch bei ganz wenigen Themen eine allgemeine Sicht, die von einer Mehrheit geteilt wird. Es existiert eine neue Form des Pluralismus, und das nicht nur bei den Lebenswirklichkeiten, sondern dank des Internets auch bei den Informationsmöglichkeiten.
Das einende Band, das einst auch unterschiedliche Meinungen, wenngleich oft auch zähneknirschend, vereinen konnte, könnte dagegen längst zerrissen sein.
Diese These lässt sich mit dem Verweis auf Studien wie den Bertelsmann Transformation Index (BTI), die Allensbach-Vertrauensstudien sowie die WZB-Studien zu Populismus und Demokratiezufriedenheit auch untermauern. – oder schlicht durch die Beobachtung der eigenen Umgebung.
Auf diese neue Wirklichkeit, gleich wie weit der Prozess auch fortgeschritten sein mag, hat die Politik nie angemessen reagiert.
Es ist natürlich nicht so, dass diese die gesellschaftlichen Wirklichkeiten nicht kennt. Auch kann nicht geleugnet werden, dass es bestes Wollen und Willen gibt – eine solche Vereinfachung wird hier nicht vertreten, sie wären den vielen Menschen, die sich von der kommunalen bis zur Bundesebene engagieren, auch nicht gerecht.
Nur haben die Veränderungen im strukturellen Gesamten leider nicht zu einer Anpassung der Politik an die Bedürfnisse sowie Bedarfe unterschiedlichster Bevölkerungsteile geführt, sondern einerseits zu einer Politik, die für sich Alternativlosigkeit beansprucht, und andererseits zu einem durchschaubaren Populismus.
Dieses funktioniert in der Regel so, dass Entscheidungen einerseits kaum mehr diskutiert werden. In Sachen Eurorettung, Migration, Corona oder auch sozial-ökologischer Transformation – mehr Demokratie, gerne auch direkter Natur, hätte hier vielleicht bessere Lösungen hervorgebracht.
Andererseits werden akute Probleme, man denke hier nur an die jüngsten Diskussionen über die Frage, ob Ukrainer direkt ins Bürgergeld gehen sollen, mit einigen Phrasen abgetan, die aber keine konkreten politischen Konsequenzen nach sich ziehen. Wahlkampf im Dauermodus. Eine Floskelparade, die am Ende die Ränder stärkt. Erst die AfD und nun die Linkspartei.
Es ist unüblich, beinahe ketzerisch zu fragen, was die Bevölkerung am Ende wirklich für ihr Ertragen erhält. Das Resümee hat sich nicht verändert: Deutschland wurde von einem Land der Macher zu einem der Verwaltung und ist heute ein Staat des Defizits.
Pflegenotstand, Investitionsstau in Infrastruktur, Fachkräftemangel, Integration, wirtschaftliche Kennzahlen, schwindende Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit – es bedarf wohl keiner weiteren Aufzählung, um diese Lücken zu erkennen und zu benennen.
Kein Narrativ, und hier kommen wir zum Storytelling zurück, kann noch so gut platziert sein, dass die zahlreichen Milieus und Lebenswirklichkeiten die jeweilige Realität nicht wahrnehmen und vor allem in ihren Kontext einordnen. Mal oberflächlicher, mal tiefer – je nach Konditionierung.
Manche Milieus lehnen inzwischen auch diskutable Botschaften ab, weil sie aus einer bestimmten Quelle kommen. Vielleicht auf unterschiedliche Art und Weise und mit abweichenden Konsequenzen, aber es erscheint naiv anzunehmen, dass dies keine Folge hat. Dies lässt sich auch messen. Nehmen wir nur ein paar Zahlen:
Bei der Bundestagswahl 2025 erhielten – laut Nachbefragungen – in der Gruppe der unter 25-Jährigen, also der Kohorte, die besonders internetaffin ist, die Linke 25 Prozent, die AfD 21 Prozent und das BSW 6 Prozent der Stimmen.
Bei den über 70-Jährigen dominierten Union, SPD und Grüne dagegen mit satten 75 Prozent. Nur Indizien oder sollte man nicht mutiger denken? Ist Veränderung nicht längst da und die postulierte Normalität zerbrochen? Ist diese Normalität vielleicht nur noch ein Stück auf einer Bühne, dem die baldige Absetzung droht?
Es geht daher am Ende gar nicht um das soziale Pflichtjahr für ältere Menschen, Steuer- sowie Sozialbeitragserhöhungen oder die angedeutete Anpassung des Renteneintritts auf 70 Jahre – es geht darum, dass die Politik damit signalisiert, dass sie die neuen gesellschaftlichen Realitäten nicht berücksichtigen will und einen Kurs weiterführen möchte, der die aktuelle Situation und die damit verbundene Schärfe mitbedingt hat.
Das wirkt auf Dauer wohl demokratiezersetzend und wird im Schlimmsten Fall zur Systemfrage führen – wobei manche Lebenswirklichkeiten hier einwenden werden, dass das in ihrer Realität schon längst geschehen ist.
Es scheint daher angebracht, sowohl die Politik als auch die Kommunikation umzustellen, eine bedarfsorientierte Vorgehensweise zu forcieren, die auch Elemente der direkten Demokratie enthalten sollte, um das verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen und die Defizite – zumindest langfristig – zu beseitigen.
Was wäre also konkret zu tun? Hier beschränken wir uns auf die eingangs genannten Themen, denn alles weitere würde jeden Rahmen sprengen.
Ein erster Schritt könnte eine ehrliche und transparente Bestandsaufnahme der fiskalischen Realität sein – wer trägt aktuell welchen Teil der Last, und wie gerecht ist diese Verteilung im Verhältnis zu den empfangenen Leistungen? Solche Transparenz kann verlorenes Vertrauen wiederherstellen.
Gleichzeitig braucht es neue Formen der Bürgerbeteiligung, etwa in Form themenbezogenen Referenden, um gesellschaftliche Mehrheiten wieder herzustellen – nicht auf Parteibasis, sondern entlang von Sachfragen. Die Schweiz macht es vor, auch auf kommunaler Ebene ließe sich in Deutschland mehr wagen.
Ohne Innovation – sowohl bei Strukturen als auch bei den Lösungen – wird es nicht gehen. Dabei bleibt Kompromissfähigkeit eine Kardinalstugend demokratischen Gebarens.
Zudem müsste die Politik aufhören, unbequeme Fragen durch Phrasen zu kaschieren. Ein Beispiel: Wenn über Steuererhöhungen oder Rentenalter gesprochen wird, sollte parallel klar gesagt werden, wofür das Geld konkret gebraucht wird, wer entlastet wird – und was die Alternativen wären.
Die Dinge hängen zusammen, eine künstliche Trennung der Themen wirkt unglaubwürdig. Nur durch eine Politik, die offen, verständlich und verbindlich kommuniziert sowie handelt, lässt sich eine neue Kultur des Zusammenhalts schaffen – trotz aller Unterschiede in den Lebenswirklichkeiten. Fehlt das, dann bleibt jede Reform ein weiterer „Testballon“ – und das Vertrauen sinkt weiter.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.