Wo ist eine der zentralen Ursachen für gesellschaftliche Konflikte zu finden?
Der Schlüssel hierfür liegt in einem Verständnis der Gesellschaft, wie sie heute tatsächlich ist und nicht, wie man sie zweckdienlich darstellen möchte. Dieses beginnt bereits bei der klassischen Einteilung in ein traditionelles Links-Rechts-Schema und dem Mythos von einer Teilung der Gesellschaft in zwei große Blöcke – so vertraut, so selbstverständlich und doch ist sie für die Abbildung der Wirklichkeit ungeeignet, da sie sich längst überlebt hat. Wohlgemerkt zur Beschreibung der Realität, nichts als politischer Kampfbegriff; zwei Dinge, die es stets zu unterscheiden gilt.
Tatsächlich und dies zeigen alle seriösen Studien, hat sich die Gesellschaft in viele kleinere Gesellschaften gespalten. Ob dies nun deren zehn sind, wie es bei den oft verwendeten Modellen des Sinus-Instituts der Fall ist oder aber, wie es die hauseigene Erich von Werner Gesellschaft sieht, welche die Meinung vertritt, dass die Lebenswirklichkeiten durch verhaltenskapitalistische Einbettung im Internet, längst immer weiter individualisiert wurden und damit stetig, im laufenden Prozess zersplittern, sei dabei offengelassen.
Jede dieser neuen Gesellschaften, in der Regel „Milieu“ genannt, hat eigene Vorstellungen von einem richtigen und guten Leben. Eigene Normen, individuelle Verhaltensmuster sowie abweichende Wertevorstellungen. Hedonisten, die primär Spaß und Genuss suchen, haben andere Ziele als Prekäre, bei denen es teilweise um die nächste Mahlzeit geht. Traditionelle oder Sozio-Ökologische präferieren völlig unterschiedliche Lösungen für Probleme. Man nehme hier die Energiewende, Abschiebungen oder die Gendersprache als Stichworte.
Die adaptiv-pragmatische Mitte ist viel flexibler als die alte bürgerliche Welt oder das etablierte Establishment. Ja, es gibt Schnittmengen, aber manche Milieus sind so weit voneinander entfernt, dass der Konsens immer schwieriger zu finden ist. Wie auch? Durch neue Formen der Kommunikation ist es auch nicht mehr notwendig, mit Menschen außerhalb des eigenen Spektrums tiefer in Kontakt zu treten. Einbettung und Individualisierung durch Online-Mechanismen, die berühmten Blasen, tragen ihr Übriges zur eifrigen Selbstbestätigung bei.
Verfestigte Lebenswirklichkeiten sind es daher, die aufeinandertreffen und Milieukonflikte auslösen, die wiederum zu Milieukämpfen führen können. Hier sind die Ursachen für Spannungen unserer Zeit zu suchen sowie auch zu finden und nicht in einem obsoleten Links-Rechts-Schema, das auf viele individualisierte Lebenswirklichkeiten schlicht nicht mehr passt.
Analog ist das Thema Klassenkampf zu behandeln. Ebenfalls ein Relikt vergangener Tage, denn die diversen Milieus sind keine Einheit, auch, wenn es Leitwirklichkeiten geben mag, sondern nur temporäre Interessenskoalitionen. Für die Völker gibt es nichts mehr zu vereinen, aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Die Milieus treiben oft keine linken, rechten Vorstellungen oder gar der Klassenkampf, sondern ihre Interessen und ihre ureigenen Wertvorstellungen. Sie sind es, die es durchzusetzen gilt.
Auf diese zerfallende Wirklichkeit passen alte Muster zwar nicht mehr und doch werden sie angewandt. Das große Problem dabei; damit schiebt man ganze Bevölkerungsgruppen in Ecken, mit denen sie sich nicht identifizieren können und so werden die Milieukonflikte noch verschärft. Man darf vielleicht sogar die These aufstellen, dass es einen Präsidenten Trump oder den jetzigen Aufstieg der AfD sowie den parallelen Abstieg der Volksparteien ohne diesen Mechanismus nie in diesem Umfang gegeben hätte.
Politisch ist eine solche Einordnung daher vielleicht für den Moment nützlich, für die Demokratie aber schädlich, denn so bleiben nicht nur die tatsächlichen Bedürfnisse der Lebenswirklichkeiten ungehört, sondern es werden auch Spannungen aufgebaut, die sich zwangsläufig im angesprochenen Milieukampf entladen müssen.
Wie können politische Bewegungen mit dieser Entwicklung umgehen?
Ungelöste Milieukonflikte, die teilweise viele Jahre brodeln, sind immer ein Türöffner für neue politische Kräfte und plötzlich wählen zahlreiche Prekäre, ein Milieu, das, wenn es denn zum Urnengang zu bewegen ist, leicht durch ein gutes Internetmarketing gewonnen werden kann, eine Partei wie die AfD, bei der im Wahlprogramm erstaunlich wenige Lösungen für die soziale Frage zu finden sind. Der Effekt ist im Übrigen kein deutsches Phänomen, denn auch der angedeutete Aufstieg eines Donald Trumps funktionierte auf eine solche Art und Weise. Auch der einstige Präsident war ein Meister der Entladung von Milieukonflikten, aber als marktradikaler Milliardär aus der Oberschicht, sicher keine Personifizierung des rust belts.
In Europa gibt es zudem genügend weitere Beispiele. Man muss daher niemanden verführen, auch so ein Irrtum unserer Zeit, sondern nur das Brodeln der Ignorierten aufnehmen sowie explodieren lassen. Die Methoden und Inhalten, die dazu führen, werden in der Regel dann überschätzt. Man reitet als Profiteur mit, lenkt aber nur bedingt.
Nun ist es aber nicht so, dass die politischen Parteien diese Mechanismen nicht kennen würden. Ihnen ist durchaus bewusst, dass die einstigen Volksparteien, die einst oft mit mehr als 40 % der Stimmen rechnen durften, an der vielfältigen neuen Gesellschaft zerschellt sind. Der Leser kann daher davon ausgehen, dass sich auch die Parteistrategen die Köpfe darüber zerbrechen, wie man mit dieser neuen Gesellschaft am besten umgehen kann.
Die Veränderungen selbst wurden daher erkannt, leider prägten sich die abgeleiteten Handlungen, spätestens, seitdem schon Gerhard Schröder die „Neue Mitte“ für sich entdeckt hatte, zu oft durch Fehleinschätzungen- sowie Handlungen, die immer mehr politischen Räume, öffneten. Irgendwann in der Ära Merkel war die Politik dann „alternativlos“. Ob nun aus Nützlichkeitsaspekten, aus ideologischen Beweggründen oder schlicht aus Achtlosigkeit – die Gründe spielen keine Rolle. Fakt bleibt, dass die etablierten Parteien Teile der Bevölkerung verloren haben. Hier sprechen die Wahlergebnisse und Sitzverteilungen eine klare Sprache.
Wie ist in dieser neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit die Rolle der Medien zu deuten?
Die neue Ära des kollektiven Individualismus hat auch den Einfluss der vierten Macht verändert. Ob man nun schon von Milieumedien sprechen kann, also jene, die nur von einem bestimmten Zielpublikum gelesen, aber zugleich, und das ist neu, von anderen Lebenswirklichkeiten sehr stark abgelehnt werden, darf offenbleiben, aber zumindest eine wissenschaftliche Untersuchung wäre die Fragestellung durchaus wert. Gleich wie; es ändert nichts daran, dass der leichterer Zugang zu Informationen jeder Art und Güte, den Einfluss etablierter Medien reduziert hat. Auflagen sinken ebenso wie Einschaltquoten und es fällt wesentlich leichter, sich nur die Informationen zu suchen, die zu einem passen – etwas, wozu der Mensch grundsätzlich neigt.
Wer das nicht möchte, lässt sich, ob bewusst oder unbewusst, schlicht virtuell einbetten. Algorithmen sorgen dann im verhaltenskapitalistischen Kreislauf dafür, dass eine eigen Welt, eine eigene Wirklichkeit entsteht. Es gibt Lebenswirklichkeiten, die lassen sich politisch problemlos auf diese Art und Weise bespielen. Der Trend zur KI wird das Ganze noch einmal auf eine völlig neue Ebene heben.
Es macht an dieser Stelle am Ende auch keinen Sinn, über die Qualität diverser Quellen zu sinnieren. Sie existieren und haben den Einfluss der Leitmedien zurückgedrängt. Diese haben, laut aktueller Studien, mit einem erhöhten Vertrauensverlust zu kämpfen. Die allgemeine Reputation spielt dabei keine Rolle, sondern nur, welchen Wert das Individuum der Quelle gibt. Ein schwieriges Feld und am Ende existieren womöglich nur noch Interessen und Gewichtungen. Und das bedingt final eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung gängiger Themen. Europa? Bürgergeld? Migration? Politische Skandale? – Es ist eine Frage des Milieus!
Immer aus einem spezifischen Blickwinkel, bei dem bestimmte Dinge relevanter wirken und andere weniger wichtig erscheinen. Was für die eine Lebenswirklichkeit unverzeihlich ist, ist für die andere belanglos. Die anderen rücken das Heizungsgesetz in den Mittelpunkt. Oder doch den Bereich Flucht und Migration? Wie wäre es mit eigenen Glaubens- und Kulturvorstellungen? Oder das Klima? Nicht jeder handelt aus Überzeugung, mancher aus Kalkül, aber wer maßt es sich an, zu bestimmen, welche Ansicht in einer Demokratie wertvoller ist? Welche Deutung soll absolut und alternativlos sein?
Je nach Perspektive, nach eigene Weltbetrachtung, kann am Ende jeder Narrativ in irgendeinem Kontext wahrhaftig werden: Die Energiewende als Rettung in der Klimakrise oder als Zerstörer der Wirtschaft, Migration als Menschheitsgebot oder als Katastrophe – es sind in der Regel individualisierte sowie milieubezogene Deutungen von dem, was wirklich wichtig ist und was nur, so schmerzlich es für Menschen mit abweichenden Meinungen auch sein mag, Randthema.