Im Jahr 2018 war sich Martin Lauwein 48 Tage lang sicher, dass er sterben würde. Durch Hunger, durch Folter, durch Kälte und Krankheit. Oder sogar durch die eigene Hand. Wer in einem der Foltergefängnisse des syrischen Assad-Regimes saß, hatte wenig bis keine Hoffnung mehr. Zweimal, so Lauwein, habe er in Haft versucht, sich das Leben zu nehmen.
Dabei war der gelernte Gerüstbauer aus Deutschland doch nach Syrien gegangen, um endlich etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen. Als Teil einer Hilfsaktion wollte er dazu beitragen, in dem geschundenen Land ein Krankenhaus zu bauen. „Ich wollte“, sagt er, „etwas machen, das richtig ist“.
Bei „Thilo Mischke“: Syriens Parallelen zu Deutschland 1945
Bei einer Passkontrolle wird er mit einem australischen Kollegen willkürlich verhaftet, er landet in einem der Foltergefängnisse Assads – der „Palestine Branch“ in Damaskus. 48 Tage bleibt er da, größtenteils in einer vier Quadratmeter großen Einzelzelle, in der er an manchen Tagen 30 Kilometer läuft, um dem Wahnsinn in seinem Kopf zu entkommen.
Schläge, Zwangspositionen, Elektroschocks, Water-Boarding: Immer wieder wird Martin Lauwein gefoltert. Irgendwann gesteht er, ein Spion zu sein – aus Angst vor weiterer Folter.
Dann wird er plötzlich freigelassen. Warum genau, weiß er bis heute nicht. Womöglich hat ihn schlicht sein deutscher Pass vor dem Tod bewahrt.
„Spurlos verschwunden – der Deutsche aus dem Folterknast“: Reporter Thilo Mischke berichtet in seiner Reportage-Reihe auf ProSieben von Martins Horrortrip zu einer Zeit, in der die Deutschen sich wieder an Syrien erinnern, weil Außenminister Johann Wadephul davon sprach, dass die Situation in Syrien aktuell „schlimmer“ sei als die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Und dass die Rückkehr Geflüchteter „zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr eingeschränkt möglich“ sei.
Suche nach dem Folterknecht: Wer ist „der Doktor“?
Bundeskanzler Friedrich Merz hingegen will nach dem Ende des Bürgerkriegs nun „keinerlei Gründe mehr für Asyl in Deutschland“ sehen. Im Gegenteil: „Diejenigen, die sich dann in Deutschland weigern, in das Land zurückzukehren“, könne man selbstverständlich abschieben.
Mischkes Reportage entstand vor und nach dem Sturz des Assad-Regimes. Ursprünglich war geplant gewesen, mit Martin Lauwein außerhalb Syriens nach dem Mann zu suchen, der ihn damals verhört und gefoltert hat. Seinen Namen kennt das Opfer nicht, er weiß nur, wie er aussah – und dass Assads Folterknecht eine rote Ferrari-Kappe trug. Angeblich nannte man ihn „den Doktor“.
Dann aber kommt der 8. Dezember 2024: Das Regime Assad ist plötzlich Geschichte, auf den Straßen Syriens wird gefeiert. Und die Gefangenen kommen frei. Ist es die letzte Chance, an Martins Endgegner ranzukommen?
Trauma-Therapie mit Thilo Mischke
Syrien ist nicht Lauweins Zukunft, sondern seine Vergangenheit. Es geht ihm darum, einen Abschluss zu finden – Trauma-Therapie, wenn man so will. Vielleicht sei es der einzige Weg, damit fertigzuwerden, glaubt Mischke. Für ihn ist klar: „Hier ist ein Volk, das schwer traumatisiert ist durch jahrzehntelange Diktatur, durch Foltergefängnisse.“ Selten habe eine Recherche so lange psychische Konsequenzen für ihn und sein Team gehabt wie die Recherchen in Syrien.
Es tut weh zuzusehen, wie Lauwein durch „Palestine Branch“ läuft. Die Befreiung des Landes ist erst wenige Tage alt, doch niemand ist mehr da – keine Gefangenen, keine Wächter. Es herrscht Chaos: Müll, Klamottenreste, Tomaten am Boden. Viel Asche außerdem: Strategie der verbrannten Erde.
Mischke ist fassungslos: „Vor sieben Tagen wurden hier noch Menschen gefoltert.“ Martin Lauwein läuft zunächst herum wie ein Tourist, lacht immer wieder aufgekratzt: „Das ist meine Zelle! Hier war ich drin!“ Mischke umarmt den Deutschen, der schließlich zu schluchzen beginnt. „Ich muss erst einmal wieder raus hier.“
Kann Zukunft gelingen, wenn man die Vergangenheit vergisst?
Schätzungsweise bis zu 300 000 Menschen sind in den zu vielen Jahren des Assad-Regimes verschwunden. Karim hingegen hat es geschafft. Er war zur selben Zeit wie Martin Lauwein in „Palestine Branch“ inhaftiert. Für den Syrer war es nur eine von vielen Haftstationen, nur ein Horror unter vielen. Immer wieder weint er, wenn an einem der Orte, zu denen er das ProSieben-Kamerateam führt, Erinnerungen hochkommen. Seine Hoffnung: „Alles wird vorübergehen.“
Gibt es einen echten Neuanfang, wenn man nur noch nach vorne blickt und nicht zurück? Vor dieser Frage stand Deutschland auch einmal. Man hatte sich dann – mithilfe der Alliierten – für die Aufarbeitung der Gräuel entschieden. Wie entscheidet sich Syrien?
Deutschlands Verantwortung für Syrien
„Auch wir in Deutschland tragen Verantwortung“, schließt Mischke seine Reportage ab. Verantwortung dafür, bei derlei Horror nicht einfach wegzuschauen. Aber vielleicht auch eine Verantwortung dafür, diesem kaputten Land nicht nur beim Aufbau, sondern auch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit zu helfen.
Und Verantwortung dafür, jenen, die noch nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen oder können, etwas mehr Zeit zu lassen. Gerade jenen, die gefoltert wurden oder erlebt haben, wie Familie und Freunde von Assads Schergen vernichtet wurden. Martin Lauwein musste diesen Horror „nur“ 48 Tage aushalten. „Gott liebt dich“, bescheidet ihm ein syrischer Häftling, der mehr als zwei Jahre in „The Palestine Branch“ einsaß. Und überlebte.