Die Angst vor dem Angriff des Iran auf Israel: „Es handelt sich eher um Tage als um Wochen“

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Die Lage im Nahen Osten ist äußerst angespannt. Ob eine diplomatische Lösung noch möglich ist, erklärt Nah-Ost-Experte Ulrich Schlie im Interview.

Eskaliert die Lage im Nahen Ostern? Angesichts der vom Iran und seinen Verbündeten seit Tagen angedrohten Vergeltungsschläge gegen Israel ist die Lage zum Zerreißen angespannt. Das Land erwartet einen Vergeltungsschlag des Irans und seiner Verbündeten in der Region.

Teheran hatte eine „harte Bestrafung“ Israels angekündigt, nachdem vor einer Woche der politische Führer der palästinensischen Terrororganisation Hamas, Ismail Hanija, in der iranischen Hauptstadt Teheran gezielt getötet worden war. Iran und die Hamas machen Israel für den Anschlag verantwortlich. 

Im Interview mit IPPEN.MEDIA ordnet Ulrich Schlie, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Nordrhein-Westfälischen Akademie für Internationale Politik, ein: Wann ist mit einem Angriff zu rechnen? Ist eine diplomatische Lösung für Israel im Krieg noch möglich und welche Rollen spielen die USA und Deutschland?

Ismail Hanija, der politische Führer der Hamas, wurde in Teheran getötet – der Iran macht Israel dafür verantwortlich. Schon kurz zuvor wurde nach Angaben der israelischen Armee bei einem Angriff auf Beirut Fuad Schukr getötet, ein ranghoher Kommandeur der Hisbollah. Wird es weitere Schläge geben oder hält sich Israel jetzt zurück?

Insbesondere die Vereinigten Staaten, aber auch Israels andere enge Verbündete in Europa raten Tel Aviv zur Mäßigung. Dabei ist unstreitig, dass Israel grundsätzlich im Völkerrecht das Recht zur Selbstverteidigung beanspruchen kann.

Israel im Krieg: „Es ist nie zu spät für die Diplomatie“

Wie ausweglos ist die Lage für eine diplomatische Lösung, um den Krieg zwischen Gaza und Israel zu beenden?

Es ist nie zu spät für die Diplomatie. Gerade die angespannte gegenwärtige Situation mit der ganz realistischen Gefahr einer weiteren, womöglich unkontrollierten Ausweitung des Konfliktes sprechen dafür, der Diplomatie eine Chance zu geben.

Wird der Iran Israel angreifen und wie könnte das aussehen? 

Hochrangige politische und religiöse Führer des Iran haben in den letzten Tagen immer wieder betont, dass Israel „bestraft“ werden müsse. Es ist deshalb realistisch, dass sich Israel auf iranische Luftangriffe sowohl gegen militärische als auch gegen zivile Ziele einstellen muss, und wir müssen leider auch damit rechnen, dass die Proxies des Iran – die Hisbollah im Libanon, die Huthies im Jemen und militante Gruppen im Irak – die Situation nutzen werden, um dem iranischen Angriff Nachdruck zu verleihen.

Wann werden der Iran und seine Verbündeten angreifen?

Wir wissen es nicht, aber wir können nach übereinstimmenden Berichten der Dienste davon ausgehen, dass es sich eher um Tage als um Wochen handelt.

Wie stark sind der Iran und die Hisbollah, welchen Schaden könnten sie Israel zu fügen?

Die iranische Führung ist in mehrfacher Hinsicht innenpolitisch unter Druck. Die Ermordung des Hamas-Führers Hanija in Teheran ist ein empfindlicher Schlag für das Regime gewesen, weil er das Versagen der iranischen Sicherheitskräfte offengelegt hat. Die anhaltenden Untersuchungen und die offizielle Reaktion, die Feierlichkeiten zur Beisetzung Hanijas können auch als Indiz gelesen werden, wie sehr sich die iranische Führung unter Druck gesetzt fühlt.

Der Besuch des früheren russischen Verteidigungsministers Schoigu, des jetzigen Sekretärs des Sicherheitsrates der Russischen Föderation in Teheran und das russische Angebot einer umfänglichen Zusammenarbeit sind aus iranischer Sicht als Sukkurs gewertet worden. Die Hisbollah im Libanon ist auffallend still gewesen in den letzten Tagen und Wochen. Wir können davon ausgehen, dass sie nur auf eine politisch-militärische Konstellation wartet, um zu einem größeren Schlag gegen Israel anzusetzen.

Ulrich Schlie, Jahrgang 1965, ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Nordrhein-Westfälischen Akademie für Internationale Politik (englisch: Academy of International Affairs NRW, Geschäftsführende Direktorin: Dr. Mayssoun Zein Al Din), Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn sowie Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS).

Israel im Krieg: „Die amerikanische Diplomatie arbeitet auf Hochtouren“

Wie bereitet sich Israel auf einen Angriff vor?

Zunächst verfügt Israel über eine wirksame, hochmoderne Luftabwehr, und seit Tagen laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Schwerer zu bemessen ist der politische Schaden, der durch eine neue strategische Lage im Nahen Osten für Israel hervorgerufen werden könnte. Dies bezieht sich sowohl auf die politisch-strategische Herausforderung eines Mehrfrontenkriegs, als auch ein zu Ungunsten Israels verändertes Gleichgewicht im Nahen Osten.

Welche Rolle nehmen die USA ein?

Die amerikanische Diplomatie arbeitet auf Hochtouren. Sie muss dabei den doppelten Spagat zwischen Solidarität mit Israel und gleichzeitiger Mäßigung des engen Verbündeten in Tel Aviv vollziehen, um nicht die wichtigen diplomatischen Partner in der Region – allen voran Jordanien, aber auch die Vereinigten Arabischen Emirate – zu brüskieren und zugleich diese in ihrem diplomatischen Einsatz zugunsten einer Deeskalierung und friedlichen Lösung im Austausch mit den anderen arabischen Staaten ermuntern.

Und welche Rolle hat Deutschland?

Deutschland hat, wie andere europäische Staaten auch, deutsche Staatsbürger in der Region aufgefordert, das jeweilige Land zu verlassen. Die Bundeswehr bereitet sich auf Evakuierungsoperationen vor. Über weitere Hilfsleistungen, auch militärische Hilfe, muss im Lichte von tatsächlich eintretenden Entwicklungen gesprochen und befunden werden. Es ist wenig klug, hier vorauseilende Debatten zu führen. Die angespannte Lage im Nahen Osten zeigt, wie wichtig es auch für Deutschland ist, über eine gut aufgestellte Diplomatie und ein umfassendes nachrichtendienstliches Lagebild zu verfügen.

„Der Terrorangriff der Hamas hat diese strategische Lage über den Haufen geworfen“

Vor dem 7. Oktober gab es trotz der Spannungen ein gewisses Gleichgewicht in der Region. Wie war die Lage damals, wie ist sie heute?

Vor dem 7. Oktober bestand aufgrund der Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien die Chance auf ein neues strategisches Gleichgewicht, das die Stellung Israels in der Region begünstigt und damit diejenige des Iran verschlechtert hätte. Hinzu kamen die gewaltigen innenpolitischen Probleme des gerontokratischen Regimes im Iran, die bis heute anhalten und die Fanatiker in Teheran in ihrer Unberechenbarkeit steigern. Der Terrorangriff der Hamas hat diese strategische Lage über den Haufen geworfen. Israel befindet sich in einem Mehrfrontenkonflikt mit offenem Ausgang und muss sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen, weil es einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt ist.

Das Ende dieser Auseinandersetzungen, die dadurch ausgelösten und noch bevorstehenden Machtverschiebungen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Schon jetzt allerdings ist klar, dass Russland von der neuen strategischen Lage weltpolitisch zu profitieren versucht und seinen Einsatz im Nahen Osten auch in der Konfrontation mit den Vereinigten Staaten erhöht, und dass Amerika entgegen der Anfangsphase der Ära Biden der Situation im Nahen Osten ein viel höheres Augenmerk schenkt.

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