Russlands Wirtschaftswunder – Am Ende doch kein Fake?
Trotz Sanktionen erlebt Russland einen erheblichen Wirtschaftsaufschwung – angeblich. Ist tatsächlich nur die Kriegsindustrie verantwortlich? Was hinter dem Wirtschaftswunder steckt.
Moskau – Seit mehr als zwei Jahren tobt der Ukraine-Krieg. Westliche Industrienationen hatten schon nach dem Einmarsch auf die Krim Sanktionen eingesetzt, sie aber 2022 noch verschärft. Der Hintergedanke der Sanktionen: eine langfristige Schwächung der russischen Wirtschaft. Zwei Jahre später veröffentlichte Russland Wirtschaftsdaten, die westliche Experten erstaunten.
Wachstum in Russland – Falsche Statistiken oder Wahrheit?
Um 3,6 Prozent soll die russische Wirtschaft im Jahr 2023 gewachsen sein. Entsprechende Zahlen hatte das russische Statistikamt Mitte Februar veröffentlicht. Zwar zeigten Ökonomen früh ein gesundes Misstrauen an diesen Zahlen – immerhin ist es im russischen Interesse, sich gegenüber dem West stark zu präsentieren – allerdings gab es auch Stimmen, die die russische Darstellung zumindest teilweise stützten. „Wir sehen keine Hinweise auf Manipulation“, zitierte etwa der Spiegel Benoit Bellone von QuantCube. Das Unternehmen analysiert unter anderem Satellitenaufnahmen, um Aktivitäten an Häfen und in Industrierevieren zu untersuchen und daraus Schlüsse auf die Wirtschaftsleistung zu ziehen.

Julie Kozack, Kommunikationsdirektorin beim Internationalen Währungsfonds, liefert eine Erklärung: „Es ist eine Kriegswirtschaft“. Der hohe Anteil an Militärausgaben stützt Produktion, gleichzeitig kurbeln Sozialtransfers den Konsum an. Das finnische „Bank of Finland Institute for Emerging Economies“ (BOFIT) ging damit bereits in einer Herbstanalyse konform, merkte jedoch dazu an, wie schwierig es sei, verlässliche Daten zu erheben. „Da unser Kontakt zu unseren russischen Kollegen und Analysten eingeschränkt ist, müssen wir uns immer mehr auf offizielle Statistiken beziehen“, teilte das Institut mit. Stattdessen versuchte es sich an Spiegelstatistiken.
Russland baut auf Militärkomplex
Damit sind Handelsdaten von Wirtschaftspartnern Russlands gemeint, die wiederum Aufschluss über die tatsächlichen Exporte und Importe geben sollen. „Der Krieg erschwert das Handelsumfeld“, urteilte BOFIT. Die Rolle des Militärkomplexes wachse weiter, während der private Sektor darunter leide. „Die Importe gehen zurück, der Wettbewerb verwelkt und die Wirtschaft isoliert sich zunehmend vom Rest der Welt.“ Selbst mit diesem überraschenden Wirtschaftswachstum sehe die weitere Entwicklung eher mau aus.
Die BOFIT-Ökonomin Heli Simona benannte konkret zwei Stränge der russischen Wirtschaft, die sich jeweils in unterschiedliche Richtungen bewegen. Sämtliche Sektoren, die irgendwie der Kriegswirtschaft zugutekommen, befänden sich im Wachstum, darunter etwa die Fertigung von Elektronik, Metallverarbeitung, Computerherstellung oder Fahrzeugbau. Kriegsferne Sektoren dagegen würden entweder deutlich schwächer oder gar nicht wachsen. Handel und Dienstleistungen zum Beispiel seien noch nicht wieder über das Vorkrisenniveau hinausgekommen. Besonders stark habe es seit 2020 die Kraftfahrzeugbranche und Russlands Holzverarbeitung erwischt.
Im Alltag wirkt sich diese Entwicklung durch verschiedene Effekte aus. Zum Beispiel kommt mittlerweile ein großer Teil der in Russland zugelassenen Wagen aus China, außerdem ist die Produktion von Haushaltsgeräten eingebrochen. Zahlen von BOFIT und dem russischen Statistikamt zeigen, dass die kriegsbedingte Fertigung bereits seit 2018 stetig angestiegen ist und die sonstige verarbeitende Industrie weit abgehängt hat.
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Höhere Löhne und Fachkräftemangel
Ein zweiter Faktor, der für Russlands höheres Wachstum sorgt, ist der private Konsum. Sozialleistungen von der Regierung sind nur die eine Seite der Medaille, denn außerdem treiben die höheren Löhne die Kauflaune der Russen an, was wiederum Teilen der Industrie hilft. Ein Grund hierfür soll der massive Fachkräftemangel sein. „Die Alterspyramide, die Mobilisierung und dazu die Abwanderung von Leuten, die Russland verlassen, bedeuten, dass wir fünf Jahre lang versuchen werden, mit einer sinkenden Zahl von Arbeitskräften ein Wirtschaftswachstum zu erreichen“, sagte dazu die Ökonomin Natalia Zubarevich von der Moscow State University gegenüber Reuters.
In einem sind sich viele Ökonomen nach fast zwei Jahren Sanktionen einig: Russlands Kriegsmaschine ist der Tropf, der die Wirtschaft am Laufen hält. „Russlands wirtschaftliche Leistung zeigt, dass das Regime die Invasion dringend braucht“, sagte dazu Laura Solanko, Senior Adviser bei BOFIT. „Die wahre Widerstandskraft von Russlands Wirtschaft wird sich nur dann zeigen, wenn die kriegsbezogene fiskalische Ausdehnung vorüber ist.“
Aktuell jedoch stehen die Zeichen weiter auf Krieg. Russische Unternehmen suchen nach immer neuen Wegen, um die westlichen Sanktionen irgendwie zu umgehen. Wichtige Handelspartner wie Indien äußern schon Sorge und könnten sich von Russland abwenden. Bereits jetzt seien Frühzeichen eines wirtschaftlichen Verfalls erkennbar.
Mit Material von Reuters