Meinungsforscher Schöppner im Interview - Welcher Umfrage kann ich trauen? Experte erklärt das Chaos - und den „Ketchup-Effekt“
Die Bundestagswahl steht vor der Tür - und während sich die Umfragen täglich ändern, stellt sich die entscheidende Frage: Wer profitiert am Wahltag vom „Last-Minute-Swing“?
Meinungsforscher Klaus-Peter Schöppner erklärt im Interview, warum sich viele Wähler erst in letzter Minute entscheiden, welche Parteien unerwartet zulegen könnten - und wer auf den „Ketchup-Effekt“ hofft.
FOCUS online: Herr Schöppner, in der Sonntagsfrage gewinnt die Union zwei Prozentpunkte hinzu und kommt bei YouGov auf 29 Prozent. Im Donnerstagabend veröffentlichten ZDF-„Politbarometer Extra“ kommen CDU/CSU nur noch auf 28 Prozent, zwei Prozentpunkte weniger als zuvor. Was muss man über Umfragen wissen, wenn man dieser Tage vor den Wahlen draufschaut, und warum unterscheiden sich die Umfragen teilweise doch recht stark?
Klaus-Peter Schöppner: Diese Ergebnisse sind – statistisch gesehen – exakt die gleichen: Wenn Sie, was ich mal unterstelle, 1000 Wahlberechtigte fragen, dann wissen zu diesem Zeitpunkt höchsten 600, ob und was sie wählen. Bei 600 aber ist die statistische Ungenauigkeit mindestens +/-3 Prozent. Genauer kann die Demoskopie gar nicht messen, immer vorausgesetzt, die Wähler antworten ehrlich und sie ändern nicht doch noch ihre Wahlabsicht.
Meinungsforscher Schöppner: "Plötzlich gilt die FDP als Option für Wechselwähler"
Welche Umfrage ist Ihrer Erfahrung nach jene, die am Ende am ehesten dem Wahlergebnis nahekommt und auf die die Bürger jetzt schauen sollten?
Schöppner: Sie sollten sich die Methode anschauen. Je mehr Befragte und je näher die Befragung zum Wahltag hin stattfindet, desto exakter das Ergebnis. Zudem ist bei Telefonumfragen die sogenannte Ausschöpfungsquote, also der Prozentsatz von den angefragten, die tatsächlich antworten, am größten.
Und noch eins: Prognosen sind das nicht. Gerade jetzt dienen Umfragen zur Wahlstrategie: Wenn wie zurzeit zum Beispiel die FDP knapp bei 5 Prozent liegt, dann gilt sie plötzlich als Option und könnte von einigen Union-FDP-Wechselwählern doch noch gewählt werden.

Auffällig ist auch, dass insbesondere die Union bei den vergangenen Bundestagswahlen stets eine verhältnismäßig große Abweichung zum Mittelwert aller Umfragen im Vergleich zu den anderen Parteien hatte. 2021 waren es zum Beispiel 1,8 Prozentpunkt mehr als im Durchschnitt vorhergesagt. 2017 waren es drei Prozentpunkte weniger. Und 2013 zwei Prozentpunkte mehr. Solche großen Schwankungen hatten andere Parteien nicht. Was sagt das aus?
Schöppner: Das heißt erst mal, dass die größeren Parteien für Unsicherheiten anfälliger sind als die Kleinen. Zudem gilt bei der Union, dass ihre Wähler noch nach vielen Seiten offen sind – und sich erst am Wahltag entscheiden. Union, oder doch lieber die AfD, oder die FDP über die 5-Prozent-Marke zu helfen. Diese Wählerwanderungen gelten natürlich auch in der Gegenrichtung.
Bundestagswahl: "Zwei Faktoren verursachen den Last-Minute-Swing"
Robert Habeck warnte kürzlich vor einen AfD-Überraschung am Wahltag. Er erwartet ein „sehr starkes AfD-Ergebnis“. Die AfD erreicht in allen Umfragen aktuell Werte um die 20 Prozent, also fast eine Verdopplung gegenüber 2021. Sind diese 20 Prozent der Stimmen aus Ihrer Sicht verschenkt?
Schöppner: Die AfD wird gewählt, weil sie Proteste kanalisiert, „klare Kante“ zeigt, unserer Probleme wirklich beim Namen nennt. Dann aber beginnen die Probleme: Denn wollen die Wähler wirklich 20 Prozent verlorene, weil nicht regierungstaugliche Stimmen, wenn man den anderen Parteien Glauben schenken darf? Reicht die „Verkonservatisierung“ der CDU für viele ihrer ehemaligen Wähler aus, doch wieder die Union zu wählen?
FDP hofft am Wahltag auf „Ketchup-Effekt“
Gibt es eine Partei, deren Potenzial in den Umfragen derzeit unterschätzt oder auch überschätzt wird, sei es durch taktische Wahlentscheidungen, Spätentscheider oder andere Faktoren? Wer könnte einen „Last-Minute-Swing“ erleben?
Schöppner: Der Last-Minute-Swing wird durch zwei Faktoren verursacht: Welche Partei kann zum Schluss am besten mobilisieren? Und wen muss ich nach den letzten Umfragen unterstützen, damit meine Wunschkoalition zustande kommen kann? Vieles konzentriert sich dabei zum Schluss auf die Wirtschaft, weil befürchtet wird, dass – egal ob die Union mit SPD oder Grünen regieren sollte – im Grunde doch alles beim Alten bleibt.
Da kommt eine Dreierkoalition mit der FDP ins Spiel: Die Liberalen wünschen sich zwar den „Ketchup-Effekt“ - erst kommt gar nichts und dann alles auf einmal. Nach dem Motto: „Wenn erst mal der Glaube da ist, dann kommt ein Ergebnis klar über 5 Prozent.“ Aber ob das auch für diese Wahl gilt?
Bei „Verian“ (ehemals Kantar) liegen die „Sonstigen“ bei 8 Prozent, das ist fast 2 Prozent mehr als 2021. Gibt es eine Splitterpartei oder ein Bündnis, das wir aktuell unterschätzen?
Schöppner: Die „Sonstigen“ sind Ausdruck von Unzufriedenheit, Vertrauensverlust und dem Glauben, dass sich doch nichts ändern wird. Dann wählt man halt Ideen und Inhalte, „die mir gefallen“. Da diesmal wegen der hohen Dynamisierung mit einer relativ hohen Wahlbeteiligung zu rechnen ist, werden auch die „Kleinen stark“. Was möglicherweise unterschätzt wird, sind die Auswirkungen, dass diesmal eventuell schon 42 bis 44 Prozent für das Zustandekommen einer Koalition reichen könnten.
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