Gastbeitrag - In der Wahlkabine entscheiden viele Deutsche nach dem Prinzip Wünschelrute
Die hohen Einschaltquoten bei den TV-Duellen, TV-Quadrellen und Kandidaten-Standpunkten zeigen: Das Interesse an der Bundestagswahl ist so hoch wie nie. Doch gleichzeitig melden Umfragen einen Rekordanteil unentschiedener Wähler – laut ZDF-Politbarometer 28 %, ARD-Vorwahlumfrage 31 % und Allensbach-Institut sogar 38 %.
Sehr großes Wählerinteresse trifft auf Rekord-Hoch bei den Unentschiedenen
Unsere Tiefeninterviews mit repräsentativ ausgewählten Wahlbürgern aus dem „Deutschland-Psychogramm-Panel“ zeigen, dass viele zwar unbedingt wählen wollen, aber viele erst kurz vor der Wahl oder sogar auf dem Weg zum Wahllokal ihre Entscheidung treffen werden. In den Interviews hören wir mitunter:
„Bloß nicht zu früh festlegen! Vielleicht leistet sich einer der Kandidaten in den aktuell sehr bewegten Zeiten noch einen fatalen Fehler wie seinerzeit Laschet mit seinem Lachen im Katastrophengebiet.“ Auch der Wahl-O-Mat bietet vielen keine klare Orientierung, sodass Ratlosigkeit herrscht – selbst im Freundeskreis.
Warum fällt die Entscheidung diesmal besonders schwer? Unsere Analysen aus Tiefeninterviews und synthetischen KI-Interviews identifizieren mehrere Ursachen:
Wirtschaft, Migration, Polarisierung: Größere Verunsicherung denn je
Deutschland steckt in einer Multikrise: Wirtschaftlicher Abschwung, gesellschaftliche Polarisierung, Bedrohungsgefühle durch Attentate und eine instabile europäische Sicherheitslage.
Anders bei vielen Krisen zuvor vermittelt der Rückzug ins Private keine hinreichende Beruhigung mehr. Denn die Menschen merken: Die Einschläge kommen näher. Viele befürchten Wohlstandsverlust, Arbeitsplatzunsicherheit und persönliche soziale Abstiegsszenarien.
Schwaches Vertrauen in Merz, Habeck und Scholz
Besonders auffällig ist das fehlende Vertrauen in die Spitzenkandidaten. Friedrich Merz gilt als durchsetzungsstark, aber unsympathisch. Insbesondere für viele Frauen scheint er in einem veralteten Gesellschaftsbild gefangen zu sein.
Olaf Scholz wirkt blass, taktierend und besserwisserisch, auch wenn er bei seinen Wahlkampfauftritten diesen Eindruck zerstreuen will. Robert Habeck wird zwar moderner als Merz und Scholz wahrgenommen, es bestehen aber Zweifel an seiner Führungsstärke und Kompetenz. Keiner der Kandidaten der großen Parteien scheint ein überzeugendes Konzept für die Vielzahl an Herausforderungen zu bieten. Die Befragten sehnen sich nach einem „Anpacker“, wie es Agenda-Kanzler Gerhard Schröder seinerzeit war.
Anstehende Kompromiss-Bündnisse versprechen keine Rettung
Zur mangelnden Überzeugungskraft der Kandidaten gesellen sich trübe Aussichten auf Kompromiss-Koalitionen, die ähnlich dysfunktional enden könnten wie die Ampel-Koalition. Die (wahrscheinlichste) Union-SPD-Koalition birgt die Gefahr, dass sich die Partner in den Politikfeldern Sicherheit und Sozialpolitik durch faule Kompromisse neutralisieren – die Rückkehr der Stillstands-GroKo.
Eine Union-Grüne-Koalition erscheint ebenfalls wenig hoffnungsvoll, da beide Parteien in Wirtschafts- und Energiefragen kaum kompatibel sind. Sollte kein Zweierbündnis möglich sein, droht eine noch instabilere Kombination aus Union, SPD und Grünen oder die Deutschland-Koalition mit Union, SPD und FDP, was die schlechten Erfahrungen mit der Ampel heraufbeschwört.
Der Worst Case wäre eine Minderheitsregierung von Merz, die von wechselnden Mehrheiten toleriert wird. Diese trüben Koalitionsaussichten führen einige Befragte zu taktischem Wahlverhalten – beispielsweise dazu, dass die CDU gewählt wird, um stabile Verhältnisse zu erlangen. Doch die Vielzahl der Koalitionsoptionen macht taktisches Wählen kaum kalkulierbar.
Migration als „Mutter aller Krisen“
Die politische Debatte ist überhitzt und extrem polarisiert. Migration wird einerseits als „Mutter aller Krisen“ dargestellt, andererseits als Thema rechter Hetze gesehen. Die CDU wird von extremen Demonstranten mit Nationalsozialisten in Verbindung gebracht, die Grünen werden pauschal für sämtliche Migrations- und Wirtschaftsprobleme verantwortlich gemacht. Viele Wahlbürger sind von dieser Scharfmacherei genervt und sehnen sich nach pragmatischen Lösungen jenseits von Ideologien.
Die um sich greifende Polarisierung führt auch zu Unsicherheit über eigene politische Werte. Grünen-Wähler erkennen die Probleme der Einwanderung, Wirtschaftsliberale zweifeln an reinem Marktdenken als Lösung der Krise. Das ständige Debatten-Karussell in den Medien verstärkt die Zweifel an den bisherigen eigenen politischen Standpunkten.
Über den Gastautor
Dirk Ziems ist Psychologe und Gesellschaftsforscher mit mehr als 30 Jahren internationaler Forschungserfahrung. Er ist Mitbegründer und Gesellschafter des Forschungs- und Beratungsinstituts „concept m“. Das Institut analysiert auf Basis tiefenpsychologischer Interviews gesellschaftliche Strömungen und Trend-Themen und berät in über 40 Ländern und 12 Branchen.
Personalisierung als Ausweg
Weil klare Orientierung fehlt, gewinnt die Persönlichkeit der Kandidaten an Bedeutung. Wer wirkt moderner, kompetenter, durchsetzungsstärker, nahbarer? Doch auch hier geraten Wähler ins Grübeln: Ist Sympathie wirklich ein entscheidendes Kriterium? Das führt erneut zu Unsicherheit.
Brandmauer und Trump: Trigger-Punkte als kurzfristige Orientierung
In dieser Ratlosigkeit sorgen bestimmte Ereignisse für kurzzeitige Stabilisierung:
- Attentate: Nach Anschlägen steigen kurzfristig die Zustimmungswerte für Union und AfD, die harte Maßnahmen versprechen.
- Brandmauer-Debatte: Merz’ Offenheit gegenüber AfD-Stimmen empört linke Wähler und stärkt den Zusammenhalt bei SPD, Grünen und Linken.
- Trump: Der Bruch der USA mit Europa und der Beginn von Verhandlungen über die Zukunft der Ukraine ohne Beteiligung Europas sorgen für große Unsicherheit. Ob dies der AfD nützt oder schadet, bleibt unklar. Ihre große Nähe zu den Trumpisten stört auch einige der eigenen Anhänger.
Doch sobald der Nachrichtenzyklus wechselt, schwindet die Orientierung wieder.
Ausnahme: Überzeugte AfD-Wähler
AfD-Anhänger sind von ihrer Position überzeugt. Sie vertrauen Alice Weidel und glauben, dass ihre Standpunkte langfristig übernommen werden. Sie sehen die Entwicklung als Bestätigung, dass die AfD 2029 eine Regierungsoption sein wird – für sie gibt es keine Unsicherheit.
Prinzip Wünschelrute – Wie Wahlentscheidungen letztlich zustande kommen
Viele Wähler stolpern unsicher durch den Wahlkampf. Trotz des Wunsches, „rational“ zu entscheiden, gestehen viele in unseren Interviews, dass sie ihr Kreuz letztlich instinktiv oder nach Bauchgefühl setzen.
Typische Muster der Entscheidungsfindung:
- Loyalität zur Stammpartei: Weil nichts Überzeugenderes da ist, bleibt man bei dem, was man immer gewählt hat.
- Hoffen auf Beruhigung: Wer sich von Polarisierung abschrecken lässt, wählt „Maß und Mitte“ (SPD, Grüne). Doch Zweifel bleiben, ob diese Parteien die Krise bewältigen können.
- Hoffen auf klare Führung: Wer sich nach Entschlossenheit sehnt, tendiert zu Merz – bleibt aber unsicher, ob der sich durchsetzen kann.
Schlussendlich fällt die Entscheidung oft nicht durch Sachargumente, sondern durch letzte Impulse: Wie das Pendel ausschlägt, werden einer diffusen Entscheidungsdynamik überlassen. Vielleicht wird es ein letztes Trigger-Ereignis vor der Wahl sein, eine sympathische oder unsympathische Äußerung eines Kandidaten, die Körpersprache auf einem zuletzt gesehen Plakat, das Storytelling eines Wahlwerbespots.
So als würde eine Wünschelrute an einem Ort unwillkürlich ausschlagen, wird ein großer Anteil der Wähler auf dem Stimmzettel ihre Kreuzchen platzieren.