Eine Analyse von Ulrich Reitz - Kurz vor Wahl offenbart sich neue Kanzler-Realität für Merz – mit einer großen Frage
Eine höhere Mehrwertsteuer steht in keinem der Wahlprogramme, auch nicht in dem der CDU. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat im TV-Duell am Mittwochabend dafür eine Hintertür geöffnet – die allerdings sperrangelweit. Hinter dieser überraschenden Wendung des Kanzlerkandidaten, der für große Steuersenkungen eintritt, steht eine triste Erkenntnis: Die Kassen sind leer.
Es sollen aber nicht nur Steuern gesenkt werden, um eine „Wirtschaftswende“ überhaupt erst möglich zu machen. Sondern die Verteidigungsausgaben werden steigen müssen in der nächsten Regierungsperiode – um 30 bis 40 Milliarden Euro, mindestens.
Koalition aus Union und SPD: Geld kann man immer brauchen
Man muss nicht einmal furchtbar alt sein, um noch zu wissen, wie das schon einmal war bei Verhandlungen zu einer Koalition aus Union und SPD. Vor 20 Jahren lehnten die Sozialdemokraten die Mehrwertsteuererhöhung rundheraus ab, CDU-Kandidatin Angela Merkel wollte sie um zwei Prozent erhöhen. Am Ende kamen heraus: drei Prozent.
Damals ging es nach dem Motto: Geld kann man immer brauchen, und: Grausamkeiten ganz am Anfang. Der amtierende Kanzler Olaf Scholz schloss eine Mehrwertsteuererhöhung rundheraus aus. Es kam ihm jetzt so schnell über die Lippen wie damals bei einem Basta von SPD-Kanzler Gerhard Schröder.
Die FDP fürchtet eine nach links rückende CDU
FDP-Chef Christian Lindner, für den Friedrich Merz in den vergangenen Tagen zum Hauptgegner avanciert ist, stellt mit Blick auf die Mehrwertsteuer schon die so bange wie eigennützige Frage: „Biegt die CDU jetzt bereits vor der Wahl nach links ab?“ Lindners Parteifreund, der Euro-Rebell Frank Schäffler, findet, „das Erschreckende“ an Merz sei, dass er schon vor der Wahl entscheidende rote Linien relativiert – „und damit räumt“.
Da hat die FDP einen Punkt, tatsächlich hat sie sogar mehrere. Merz sah Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck – den Hauptgegner von Markus Söder, dem CSU-Vorsitzenden, von dem Merz abhängig ist – schon wieder in der Regierung sitzen. Zuletzt mochte Merz zwar Habeck für ein Wirtschaftsministerium ausschließen, hantierte aber mit dem Zuschnitt der Ministerien, die dann wieder Platz schaffen könnten für einen Bundesminister Robert Habeck.
Bei der Schuldenbremse argumentiert Merz kompromissfähig
Auch bei der Schuldenbremse argumentiert Merz kompromissfähig – und rückt damit seinen potenziellen Koalitionspartnern näher – SPD und Grünen haben ihr komplettes Wirtschaftsprogramm an eine Aufweichung der Schuldenbremse geknüpft.
Damit nicht genug: Mit welchem Geld soll die künftige Ukraine-Hilfe bezahlt werden – wenn nicht mit neuen Schulden? Ursula von der Leyen hat bei der Münchner Sicherheitskonferenz schon einmal die Militär-Aufwendungen von den europäischen Schuldenregeln ausgenommen – freie Fahrt für neue Schulden der Nationalstaaten. Ganz so, wie SPD und Grüne es wollen.
Merz bastelt am neuen Regierungs-Organigramm
Merz sieht sich als den kommenden Bundeskanzler, er wähnt sich bereits in Koalitionsverhandlungen. Er und seine Leute basteln schon an einem neuen Regierungs-Organigramm, an der Aufteilung der Ministerien zwischen CDU, CSU und SPD.
Apropos CSU: Die agiert, wenn es um Machtfragen geht, nicht einen Deut anders als eine gegnerische Partei wie die SPD oder eben die Grünen. CDU und CSU heißen zwar „Union“ – sie haben im Bundestag auch eine Fraktionsgemeinschaft. Aber es handelt sich doch um zwei Parteien – mit zwei, im Zweifel unterschiedlichen Interessen.
Dass Alexander Dobrindt ein „großes Ministerium“ haben soll – Innen, wie schon der CSU-Mann Horst Seehofer vor ihm, oder, wegen der in Bayern starken Rüstungsindustrie, gar Verteidigung – gilt unionsintern als gesetzt.
Der CDU-Chef räumt innenpolitische Positionen
Derweil räumt Merz, nicht laut, aber doch deutlich, auch innenpolitische Positionen. Auch bei dem empfindlichen Thema Migration, das Merz im Bundestag großen Ärger wert war, weil er die Zustimmung der AfD gleich zweimal in Kauf nahm.
Unter dem Eindruck des Attentats von Aschaffenburg hatte Merz gesagt, ihm sei gleichgültig, wer der Union bei der konsequenten Eindämmung der illegalen Migration zustimme. Sein Generalsekretär Carsten Linnemann hatte sogar die Frage, was passiere, wenn die Union bei Koalitionsverhandlungen für ihren Fünf-Punkte-Plan keine Zustimmung erfahre, damit beantwortet, dann werde man eben nicht regieren.
Merz will doch keine 40.000 Flüchtlinge festnehmen
Das klang martialisch und das sollte auch so klingen. Die demonstrative Entschiedenheit war auch eine Reaktion auf den Druck, den die AfD von rechts über Wochen auf die Union aufgebaut hatte.
Nun hat Merz seinen Migrationsplan, ohne den es angeblich eine Regierung unter ihm nicht geben werde, entschärft. Im TV-Duell mit Scholz sagte Merz, die 500 „Gefährder“, vornehmlich aus Afghanistan und Syrien, sollten in Gewahrsam genommen und abgeschoben werden.
Dann sagte er dies: „Diese 40.000, die sofort ausreisepflichtig sind ohne Duldungsstatus, die können sie natürlich nicht alle festnehmen.“ Noch im vergangenen Monat hatte es im Migrationsantrag der Union geheißen, wer vollziehbar ausreisepflichtig sei, müsse „unmittelbar in Haft genommen werden“.
Wie eine Annäherung an die bestehende Realität der tausendfachen Nicht-Abschiebungen wirkt auch der Satz von Merz aus dem Duell, es gebe Länder, in die man nicht abschieben könne. Inzwischen hat übrigens die Taliban-Regierung genau hierüber Deutschland Verhandlungen angeboten.
Merz plant eine Arbeits- und Reparaturkoalition
Das Geld und die Realität – diese beiden Faktoren limitieren den Spielraum eines Bundeskanzlers grundsätzlich. Das klingt banal, ist es aber nicht mehr, wenn es dann in einem Verteidigungs- oder einem Sozialhaushalt konkret wird.
Merz will schnell eine Regierung zusammenbringen, um handlungsfähig zu sein. Keine Zeit will er auf Grundsatzdebatten oder Inszenierungen verschwendet sehen. Es soll deutlich anders zugehen als in den Anfangstagen der Ampel. Merz plant eine Arbeits- und Reparaturkoalition.
Sein – ganz persönlicher – Antrieb verbirgt sich hinter einer Zahl: 2029. Dann steht die nächste Wahl an. Und Merz sagt in fast jeder Wahlveranstaltung, wenn bis dahin die politische Mitte nicht „liefert“, stünde die AfD an den Toren der Macht.
Verantwortungsbewusst, sich den Realitäten zu stellen
Merz spürt diese Verantwortung, es hat auch etwas zu tun mit seiner Lebenserfahrung und seinem Alter. Am 11. November wird Merz 70 Jahre alt. Merz muss im Grunde nichts mehr werden, aber er ist ehrgeizig, will demonstrieren, dass er es kann. Auch nach den Demütigungen, die ihm Angela Merkel zugefügt hat.
Es hat etwas zu tun mit Verantwortungsbewusstsein, wenn Merz sich nun den Realitäten stellt. Zu den „Realitäten“ gehört allerdings, vieles nicht so durchsetzen zu können, wie er sich das vorgestellt hat. Zwischen dem Realisierbaren und dem Wünschbaren liegt nicht nur ein leeres Portmonee.
Unterm Strich: Inzwischen kristallisiert sich immer mehr von dem heraus, was nach dem kommenden Sonntag passiert, geht es nach Friedrich Merz. Es gibt bei alldem allerdings eine große Frage: Der sich abzeichnende, nur kleine Aufbruch, das Planen von Personalien, diese Aussicht auf ein wenig glanzvolles Weiter so: Wie mag das auf die Wähler wirken?
In Berlin kursiert ein bürgerliches Schreckensszenario
Die Umfragen enthalten keine eindeutigen, sondern eindeutig schillernde Botschaften. Kleine Änderungen können noch viel bewirken, auch eine große Änderung – es spielt eine immense Rolle, ob die FDP es schafft oder nicht: In einer Deutschlandkoalition – schwarz-rot-gold (gelb) – sitzen zwei marktwirtschaftliche einer staatswirtschaftlichen Partei gegenüber. In einer Großen Koalition ist das Verhältnis pari: bei Staatsfinanzen, Sozialausgaben und auch Migration kann das noch sehr wichtig werden.
Und auch ein ganz anderes Szenario ist nicht vom Tisch, sondern wird in jüngster Zeit sogar wahrscheinlicher: Eine Rot-Rot-Rot-Grüne Duldungskoalition – mit einem SPD-Kanzler an der Spitze, der Scholz heißen kann, aber nicht muss.
Es ist das bürgerliche Schreckensszenario. Und während Merz jegliche Zusammenarbeit mit der AfD ausschloss, was eine von ihr geduldete Minderheitsregierung und eine Kanzlerwahl mit den Stimmen der AfD einschließt, gibt es von Scholz keine vergleichbar verbindliche Aussage zu R3G – dreimal rot plus grün.
Merz verteilt das Fell eines Bären, der noch brüllt
Der Bundeskanzler weiß genau: Was nicht ausgeschlossen ist, ist auch möglich. Er selbst hat Merz – vor laufenden Kameras – zu dieser Klarstellung hinsichtlich der AfD genötigt. Er selbst ging einer vergleichbaren Klarstellung aus dem Weg. Er hat sie also auf der Rechnung. Und Robert Habeck schließt Rot-Rot-Grün „natürlich nicht“ aus. Es ist also noch alles offen.
Man kann es also fahrlässig finden von Merz: Kurz vor der Wahl das Fell eines Bären zu verteilen, während der noch bedrohlich brüllt.