Koalitionsvertrag steht – für Friedrich Merz und Lars Klingbeil beginnt ein neuer Kampf
Nach dem Kampf um die Worte beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Union und SPD hatten gerade den Koalitionsvertrag final formuliert, als von den Parteispitzen schon die ersten Jubel-Nachrichten versendet wurden. Das Ziel: Die jeweilige Parteibasis und die Öffentlichkeit vom eigenen Verhandlungserfolg zu überzeugen, bevor diese das Papier genau lesen und es madig machen können.
So kursierte schon am Mittwochvormittag in vielen CDU-Chats eine Nachricht, die den Koalitionsvertrag feierte. „13 von 15 Punkten unseres Sofortprogramms sind drin und werden zeitnah umgesetzt“, heißt es in dem häufig geteilten Text.
Der vermeintliche Erfolg auf fast voller Linie liest sich beeindruckend: „Das Bürgergeld wird rückgängig gemacht, wie von uns gefordert. Es wird die Wochenhöchstarbeitszeit eingeführt, wie von uns gefordert. Es wird die steuerfreien Überstundenzuschläge geben, wie von uns gefordert.“ So wird Punkt für Punkt aufgelistet.
In der CDU halten manche den Koalitionsvertrag für ambitionslos
Spricht man nach der Präsentation des Koalitionsvertrags mit Politikern und Mitgliedern der Union, will aber nicht bei allen Begeisterungen aufkommen. Das hat auch damit zu tun, dass der Teufel im Detail steckt.
Während die CDU-Führung um Friedrich Merz zum Beispiel die Senkung der Körperschaftssteuer als Gewinn verkauft, weisen andere darauf hin, dass die Reduzierung erst ab 2028 und dann nur in kleinen Schritten geplant ist.
Ihr Tenor: Solche ambitionslosen Vorhaben würden eher in die mittlerweile vergangenen Glanzzeiten der wirtschaftlichen Stärke passen – aber nicht in die heutige Zeit. Wenn die Union sich ernst nähme mit ihrer Diagnose, dass Deutschland in den vergangenen Jahren zum Sanierungsfall heruntergewirtschaftet wurde, wäre ein viel größerer Wurf nötig.
Junge Union verärgert über Mütterrente und andere Bonbons
Stattdessen finden sich im Koalitionsvertrag für jede Partei ein paar teure Bonbons, wie etwa die von der CSU ins Papier geschriebene Mütterrente. Sie hatte vor allem die Junge Union (JU) schon nach der Sondierungsphase scharf kritisiert. Der Ärger ist noch nicht verraucht, im Gegenteil.
Aber positiv für Parteichef Merz: JU-Chef Johannes Winkel blieb nach der Vorstellung des Koalitionsvertrags einfach still, statt öffentlich Kritik zu äußern. Das dürfte aber eher ein Zeichen der Loyalität sein als ein Anzeichen seiner Freude über das Verhandlungsergebnis.
Merz hatte bei der Pressekonferenz am Mittwoch noch versucht, ein Signal an junge Menschen zu senden, in dem er erklärte, in dem Vertrag stecke auch viel für sie drin. Doch da das nach Ansicht vieler in der JU nicht mit konkreten Punkten untermauert ist, ist dieser Hinweis für sie eher zynisch.
Gespaltene Ansichten in CDU über Ministerien-Verteilung
Neben wirtschafts- und finanzpolitischen Themen stößt vielen in der CDU vor allem die Verteilung der Ministerien sauer auf. Ganze sieben gehen an die SPD, angesichts des Wahlergebnisses von lediglich 16,4 Prozent sehen das die meisten als zu viel an. Denn die CDU hat inklusive Kanzleramt ebenfalls nur auf sieben Häuser erhalten.
Zudem sicherten sich die Sozialdemokraten drei Ressorts, in denen es ums Verteilen von viel Geld geht: das Finanzministerium, das Verteidigungsministerium und das Arbeitsministerium. Während manche das nicht verstehen können, sind andere ganz zufrieden mit der Zuteilung. Es sei doch ein großes Pfund, dass die Union mit dem Innen- und Außenministerium zwei Schlüsselressorts besetzte, die für die versprochene Migrationswende entscheidend werden.
Allgemein können mit dem Migrationskapitel im Koalitionsvertrag viele in der Union gut leben. Die SPD habe viele Standpunkte räumen müssen. Zudem weisen Migrationsexperten der Fraktion darauf hin, dass im Text viele kleine Maßnahmen stecken würden, die einen großen Effekt auf die wichtigen Migrations-Kennzahlen haben könnten.
Funktionäre zufriedener als die Basis
Blickt man auf die derzeitige Stimmung in der Union, kommt es stark darauf an, welche Gruppe man in den Fokus nimmt: Bei der CSU scheint es mehr Freude zu geben als bei der CDU. Während manche Fachpolitiker zufrieden sind, sind Experten anderer Themengebiete ernüchtert. In der Fraktionssitzung am Mittwochabend war die Stimmung gut, kritische Anmerkungen gab es von Funktionären kaum. An der CDU-Basis grummelt es hingegen weiter.
Die einfachen Mitglieder werden zwar in den nächsten Tagen noch großen Einfluss darauf haben, wie Merz und seine Mannschaft bewertet werden. Letztlich werden sie aber keinen Einfluss auf die Entscheidung haben, ob die CDU dem Koalitionsvertrag zustimmt.
Die Parteiführung hat vorgesorgt: Beim Parteitag vor der Bundestagswahl wurde eine Satzungsänderung beschlossen, nach der künftig nicht mehr ein Parteitag, sondern nur noch ein sogenannter Bundesausschuss über den Eintritt in eine Regierung entscheiden darf.
Die Jusos appellieren plötzlich an die staatspolitische Verantwortung
Anders ist das bei der SPD, die ab nächstem Dienstag ihre Mitglieder vor die Entscheidung stellt. Bei den Sozialdemokraten ist es deshalb umso heikler, wie sich die Stimmung an der Parteibasis entwickelt. Aktuell ist die ähnlich wie bei der CDU: sehr verhalten, es gibt auch Kritik.
Anders als vor dem Eintritt in die bislang letzte schwarz-rote Koalition 2017 sieht es nicht nach einer Kampagne der Jusos gegen den Koalitionsvertrag aus. Die Situation sei „eine ganz andere“ als damals, sagte zum Beispiel Philipp Türmer, Chef der SPD-Nachwuchsorganisation, mit Blick auf die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Trotz seines Hinweises, die Inhalte des Vertrags genau prüfen zu wollen, klingt Türmers indirekter Hinweis auf die staatspolitische Verantwortung der SPD wenig rebellisch.

Migrationsexperten der SPD empfehlen Mitgliedern Ablehnung
Klarer ist dagegen Aziz Bozkurt, Vorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der Partei. Schon während der Verhandlungen hatte er sich unzufrieden über das Vorgehen der SPD-Verhandler bei der Migrationspolitik gezeigt. Nachdem das Ergebnis jetzt bekannt wurde, sagte er zu FOCUS online: „Der Vertrag ist im Bereich Migration und Integration keinesfalls mit einer sichtbaren Handschrift der SPD versehen.“
An manchen Stellen blieben zu viele Fragen ungeklärt, an anderen seien die Formulierungen geradezu höhnisch für Migranten, einige Vorhaben seien „rechtlich fragwürdig“. „In Kombination mit wenig Erfolgen in der Sozialpolitik ist zu befürchten, dass diese Koalition zum Katalysator für rechte Kräfte wird“, sagt Bozkurt.
Sein Fazit: „Als Fachexpertinnen und -experten für Migration und Teilhabe lehnen wir den Koalitionsvertrag entschieden ab und rufen alle SPD-Mitglieder auf, diesem Entwurf nicht zuzustimmen.“
SPD-Fraktion sorgt sich um die Finanzen der Koalition
Sorgen gibt es in der SPD auch über die Finanzen der künftigen Koalition, wie „Table Media“ berichtet. Die Abgeordneten habe demnach bei einer Videoschalte der Fraktion am Mittwoch die Sorge umgetrieben, dass die trotz Schulden-Paket knappen Kassen bei der Umsetzung mancher Projekte zu Enttäuschungen führen könnten.
Denn klar ist: Der gesamte Koalitionsvertrag steht unter Finanzierungsvorbehalt. Nachdem die Enttäuschung in der Union über das Schulden-Paket groß war, hat sie in den Koalitionsvertrag einen Großteil ihrer haushaltspolitischen Leitlinien hineinschreiben können. Das bedeutet auch für die SPD knifflige Aufgaben bei der Finanzierung ihrer Lieblingsprojekte.
Auf der anderen Seite könnte die Partei auch davon profitieren. Denn mit dem Finanzierungsvorbehalt wird das Finanzministerium zu einem noch wichtigeren Haus als ohnehin schon – das Ressort geht an die SPD. Wahrscheinlich wird es von Parteichef Lars Klingbeil geführt werden, der womöglich wissend um sein Machtinstrument den Finanzierungsvorbehalt bei der Pressekonferenz am Mittwoch ansprach.
Unruhe bei SPD hat Auswirkungen auf CDU-Kommunikation
Ob das allerdings den Parteimitgliedern reicht, ist unklar. Sie werden wahrscheinlich weniger in machtpolitischen Kategorien denken und vielmehr auf einzelne Inhalte schauen. Die SPD-Führung wird deshalb genau überlegen müssen, welche Themen sie in den kommenden Tagen in den Vordergrund stellt.
Überziehen darf sie nicht mit Eigenlob: Werden zum Beispiel 15 Euro Mindestlohn als Erfolg verbucht, könnte allzu schnell die Kritik folgen, dass die Formulierung im Koalitionsvertrag doch ziemlich weich ist.
Die Unruhe bei den Sozialdemokraten und der bevorstehende Mitgliederentscheid haben auch Auswirkungen darauf, wie die Union den Koalitionsvertrag kommuniziert. Zum Beispiel die Erfolge bei der Migrationspolitik solle man lieber nicht ganz so offensiv feiern, heißt es aus der Partei. Das könne im Zweifel die SPD-Basis provozieren und deren Zustimmung bei der Abstimmung gefährden.
Der CDU fällt es umso schwerer sich zurückzuhalten, je unzufriedener die eigenen Mitglieder sind, die jetzt endlich einen Kurswechsel sehen wollen. Beim Kampf um die Deutungshoheit wird es also noch viel Fingerspitzengefühl brauchen, bevor aus den Worten im Koalitionsvertrag tatsächlich Regierungshandeln werden kann.