Was macht Mut, wer sich durchgesetzt hat: Experte erklärt den Koalitionsvertrag
FOCUS online: Herr Wagschal, sechseinhalb Wochen nach der Bundestagswahl steht der Koalitionsvertrag. Wie bewerten Sie das Verhandlungsergebnis von Union und SPD vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Wahlergebnisse?
Uwe Wagschal: Das Verhandlungsergebnis spiegelt eine bemerkenswerte Bereitschaft zu einem politischen Kompromiss wider. Trotz unterschiedlicher Ausgangslagen ist es gelungen, eine gemeinsame Linie zu finden, die sowohl Stabilität als auch Erneuerung verspricht. Die Union konnte zentrale Anliegen wie eine Neubewertung der Migrationspolitik durchsetzen, während die SPD wichtige soziale Sicherungen verteidigt hat, zum Teil auch verbessert hat wie beim Schwangerschaftsabbruch oder dem 15 Euro Mindestlohn. Insofern ist der Vertrag auch Ausdruck politischer Reife und einem gesteigerten Verantwortungsbewusstsein. Der Druck durch den Ukrainekrieg, der harschen Zollpolitik Trumps und dem Kollaps der Finanzmärkte hat sicher die Parteien zu einer schnellen und weitreichenderen Einigung bewegt.
CDU-Chef Friedrich Merz war es besonders wichtig, in der Migrationspolitik eine Wende einzuleiten. Wie viel wird sich nun ändern?
Wagschal: Hier wird in der Tat umgesteuert. Die Koalition verfolgt das klare Ziel, Migration zu ordnen und stärker als bisher einzugreifen. Das Innenministerium geht an die CSU, wohl an Dobrindt, was ebenfalls ein deutliches Signal ist. Da das Außenministerium an die CDU geht, sind die Zeiten der Baerbock-Airline wohl vorüber, mit denen Afghanen noch nach der Wahl in massivem Umfang eingeflogen wurden. Zu den Maßnahmen gehört auch die Änderung des Staatsbürgerrechts, die erleichterte Turbo-Einbürgerung nach drei Jahren wird der Geschichte angehören, das wird auf fünf Jahre erhöht. Auch der Familiennachzug soll abgeschafft werden. Und es wird mehr Grenzkontrollen geben. Dies sind klare Punkte für die Union, die hier viel durchgesetzt hat.
„Die Union hat den Fokus auf Haushaltsdisziplin durchgesetzt“
Ein weiterer Knackpunkt in den Verhandlungen war die Finanzpolitik. Welche Partei hat sich am Ende durchgesetzt?
Wagschal: Zunächst einmal ist die Verfassungsänderung zur Aufweichung der Schuldenbremse vom 13. März ein klarer Erfolg der SPD. Da wurde die Union gegenüber ihren Versprechungen wortbrüchig und gerade Söder hat sich in der Pressekonferenz am Mittwoch nochmals bemüht, dies zu erklären. Die Union hat sich mit ihrem Fokus auf Haushaltsdisziplin durchgesetzt, während die SPD zugleich soziale Ausgaben verteidigen konnte, wie die Festschreibung des Rentenniveaus bei 48 Prozent.
Der Dreiklang, der von Söder bemüht wurde, war: Investieren, Reformieren und Konsolidieren. Da das Finanzministerium an die SPD geht, wird es spannend sein, wie die Konsolidierung durchgesetzt wird, da der Finanzminister durch Vetorechte eine starke Stellung hat. Es wurde auch viel für die Unternehmen vereinbart: Körperschaftsteuersenkungen, Sonderabschreibungen für Investitionen. Aber auch die Pendler dürfen sich auf eine höhere Pendlerpauschale freuen.

Das Bürgergeld soll nun durch eine „neue Grundsicherung“ ersetzt werden, wie es die Union im Wahlkampf gefordert hat. Verbergen sich hinter dem neuen Namen auch große Veränderungen oder bleibt das System im Wesentlichen erhalten?
Wagschal: Der Begriff „neue Grundsicherung“ steht nicht nur für einen neuen Namen, sondern für eine gezielte Änderung des bisherigen Bürgergeldes. Das wird spannend, da in der Pressekonferenz am Mittwoch bei SPD-Chefin Saskia Esken andere Interpretationen aufkamen, wie der Vertrag zu lesen sei. Im Zentrum steht das Ziel, mehr Menschen schneller und dauerhaft in Arbeit zu bringen. Esken verkündete aber auch – eher beiläufig – eine Änderung der Sozialleistungen für neu ankommende Geflüchtete aus der Ukraine. So sollen ukrainische Geflüchtete, die wohl ab dem 1. April 2025 nach Deutschland kommen, nicht mehr automatisch Anspruch auf das Bürgergeld haben. Stattdessen sollen sie zunächst Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten.
Ministerien-Verteilung: „SPD kontrolliert mehr finanzielle Ressourcen“
Auch die Verteilung der Ministerien ist nun klar. Die SPD sichert sich – wahrscheinlich für Lars Klingbeil – das Finanzministerium. Ist das eine kluge Entscheidung?
Wagschal: Insgesamt hat die SPD relativ mehr Minister als ihnen vom Stimmenanteil her zusteht. Zehn Unionsminister und sieben SPD-Minister wird es geben. Dabei hat die SPD drei der fünf klassischen Ministerien und sie „kontrolliert“ mit ihren Ministern auch mehr finanzielle Ressourcen, insbesondere durch das Arbeits- und Sozialministerium. Vor diesem Hintergrund hat die SPD gut verhandelt, wahrscheinlich der Preis, den die Union für Zugeständnisse bei Steuerthemen und der Migration zahlen musste. Ob Klingbeil ein guter Finanzminister wird, ist Spekulation. Ein Fachpolitiker in dem Themenfeld ist er jedenfalls nicht, war Lindner aber auch nicht. Jedenfalls hat ein Finanzminister durch Vetorechte viel Einfluss und Macht. Und schließlich – so der Vertrag – stehen alle Maßnahmen unter einem Finanzierungsvorbehalt.
Die Union besetzt künftig unter anderem das Außen- und das Innenministerium. Welche Spielräume schafft das für Merz?
Wagschal: Als Außenminister wird Johann Wadephul von der CDU gehandelt. Ein Fachpolitiker mit wenig Ausstrahlung, der wohl Norbert Röttgen und Armin Laschet ausstechen wird. Das erhöht den Spielraum von Friedrich Merz, der nun mehr Außenpolitik aus dem Kanzleramt machen kann. Da gab es ja Beispiele schon früher, wie Brandt, Kohl oder Adenauer. Ob er außenpolitisch aktiv wird bleibt abzuwarten, Olaf Scholz war da sehr zurückhaltend. Das Innenministerium liegt bei der CSU und Söder kündigte in der Vorstellung des Koalitionsvertrages schon „Law and Order“ wie in Bayern an. Das kann der Union nur helfen, da es potenziell der AfD Wind aus den Segeln nehmen wird.
Es wird erstmals ein eigenständiges Digitalministerium geben. Damit steigt die Zahl der Ministerien – Merz wollte den Regierungsapparat eigentlich verkleinern. Halten Sie die Ressortzuschnitte und Ministerienzahl für sinnvoll?
Wagschal: Hier wird zunächst ein neues Ministerium geschaffen. Nicht nur für Digitalisierung, sondern auch für Staatsmodernisierung. Gleichzeitig wurde ein Abbau von 8 Prozent der Stellen in der Bundesverwaltung angekündigt. Insgesamt hätte man stärker verschlanken können. Die beiden Themen hätte man zur Bildung geben können, ein Ressort, was in unserem Föderalstaat nur wenig zu sagen hatte, weil Bildung Ländersache ist. Es soll jedoch die Zahl der Bundesbeauftragten halbiert werden. Jedenfalls hätte man gleich mit der Haushaltskonsolidierung beginnen können, indem man Ministerien abbaut und nicht neue Ministerien schafft.
„Vorstellung des Koalitionsvertrages macht Hoffnung auf neuen Politikstil“
Sieht der Koalitionsvertrag tatsächlich nach dem Politikwechsel aus, den Friedrich Merz als Kanzlerkandidat der Union versprochen hat?
Wagschal: Es gibt tatsächlich Elemente dieses versprochenen Wandels, aber auch Kompromisse. Und natürlich bleibt auch viel so wie es ist, denn viele Wähler wollen oft keine Änderungen – und wenn dann nur bei den Anderen. Große Änderungen sehe ich bei der Verteidigungspolitik, den staatlichen Investitionen und der Migrationspolitik. Mittlere Veränderungen sind etwa bei einigen Themen in der Sozialpolitik – etwa bei Bürgergeld und Schwangerschaft –, der Steuerpolitik für Unternehmen oder der Schuldenbremse sichtbar. Und manches wurde von der SPD verteidigt, wie das Rentenniveau.
Zuletzt sind die Umfragewerte der AfD gestiegen, die von Schwarz-Rot und Merz gefallen. Inwiefern kann die künftige Regierung mit ihrer Linie der AfD den Wind aus den Segeln nehmen?
Wagschal: Die gemeinsame Vorstellung des Koalitionsvertrages macht Hoffnung auf eine Änderung des Politikstils. Nicht nur, dass Merz und Klingbeil sich jetzt duzen, sondern die Tonalität war doch eine ganz andere. Da war manchmal eher Hass und Hetze im Wahlkampf. Söder sprach nun davon, dass es jetzt keine roten Linien mehr gibt, sondern einen roten Faden. Der gemeinsame Wille nach einem Wandel wurde wiederholt betont, der Ampelstreit soll nicht fortgesetzt werden. Als Regierungstechnik will Merz den Koalitionsausschuss regelmäßiger tagen lassen.
Bevor die Regierung endgültig steht, müssen die drei Parteien noch zustimmen: bei der CDU ein kleiner Parteitag, bei der CSU der Parteivorstand, bei der SPD die Mitglieder. Erwarten Sie angesichts der Verhandlungsergebnisse jetzt noch größere Widerstände?
Wagschal: Wie bei solchen Verträgen üblich kann jeder was für sich herauslesen, jeder hat sein Zuckerl. Und für die Union kam es so schlimm doch nicht, wie die Arbeitsgruppenpapiere im März erwarten ließen. Die SPD wird zustimmen, denn es gilt nach wie vor das alte Müntefering-Gesetz: Opposition ist Mist.