Karl-Theodor zu Guttenberg - „Lässt sich Scheiße als Kunst verkaufen?“, fragte mich einmal mein Vater
Eine Woche - vier Fassaden: Das Hundertwasser in Wien, tatsächliche Befindlichkeiten, Präsentationen mit Power Point und ein Flieger voller Fußballfans offenbaren mir, wie Menschen Fassaden zu ihrem Vorteil nutzen.
„Lässt sich Scheiße als Kunst verkaufen?“, fragte einmal mein Vater, als er mit seinem damals halbwüchsigen Sohn griesgrämig durch eine Modern Art-Ausstellung in Wien stapfte. Mir gefielen die Exponate. Ihm missfiel mein Gefallen.
„Ausgerechnet in Österreich, dieser Hochburg der Ästhetik“, schimpfte er.
Es stimmt. Das Alpenland versteht es seit jeher, sich zu präsentieren. Haydn, Mozart (sowie die unausweichlichen Kugeln gleichen Namens), Lippizaner, Sängerknaben und eine beispiellos schöne Landschaft. Es glänzt, egal wie sehr es unter der Oberfläche brodelt.
Auf einer Japanreise musste ich an diese Episode denken. Dort hatte der österreichische Künstler Friedensreich Hundertwasser die Fassaden der Kläranlage in Maishima gestaltet. Hundertwasser für Abwasser. Das Kraftwort meines Vaters lässt sich immerhin in Kunst hüllen, dachte ich mir.
Über Karl-Theodor zu Guttenberg
Karl-Theodor zu Guttenberg wurde bekannt als Bundesminister. Heute ist der ehemalige Politiker Unternehmer, Co-Produzent und Moderator von Dokumentarfilmen und anderen publizistischen Formaten. Er veröffentlicht in englisch- und deutschsprachigen Medien. Seit Juni 2023 ist KT zusammen mit Gregor Gysi Host des Podcasts "Gysi gegen Guttenberg".
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„Wie geht es Ihnen?“
„Bestens.“
Es kann nicht stimmen. Er hat gerade eine geplante Übernahme versenkt. Seine Familie ist ein Trümmerfeld. Er sieht ungesund aus. Mein Versuch, seine wirkliche Befindlichkeit zu erfahren, scheitert kläglich. Er beharrt auf der Aufrechterhaltung des Scheins.
Ich insistiere nicht weiter, kenne ich doch den Reflex von mir selbst. Wie oft ziehen wir eine makellose Maske über ein von Niederlagen, Kränkungen und Ärger vernarbtes Gesicht. Kaschieren wir damit Authentizität oder schaffen wir konstant eine neue? Womöglich beides. Weshalb das Haus renovieren, solange die Fassade stimmt.
Offenbar genügt diese Erkenntnis auch vielen Mitmenschen. So reagieren nicht wenige verstört, wenn ihnen jemand auf die Frage nach dem Innenleben ungeschminkt die Wahrheit sagt. Man begibt sich nicht gerne in fremde Häuser. Stattdessen blickt man lieber unbemerkt und mit voyeuristischer Lust durchs Fenster.
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Zwei Tage später. Eine Firmenpräsentation. Die Slides sind überladen wie die Eingangsfassaden mancher gotischer Kirchen.
Einmal mehr erweist sich Power Point als gefügiges Instrument, um Inhaltsleere den Anstrich von Substanz zu verleihen. Bis sich plötzlich der Computer aufhängt. Vor mir seufzt einer vernehmlich: „Danke. Der liebe Gott schenkt dem Vortragenden und uns das Erlebnis der inspirierenden, freien Rede.“ Es blieb bei dem Wunsch, die Fassade fiel.
Einladung zum Nachdenken
Der frühere Spitzenpolitiker Karl-Theodor zu Guttenberg hat sich inzwischen einen gelasseneren, aber nicht minder scharfen Blick auf die Dinge angewöhnt. Er lässt uns auf charmante Art an seinen Alltagserlebnissen und Gedanken teilhaben.
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Freitag. Ein Ryanair-Flieger nach Mallorca. Nachmittags vor dem EM-Eröffnungsspiel. Schlachtgesänge in der Abflughalle. Kurz nach dem Start Rudelbildungen vor den Toiletten. Tennisbälle werden zwischen den Reihen hin- und hergeworfen, Anschnallzeichen konsequent ignoriert.
Bis einer Flugbegleiterin der Kragen platzt: „Wenn Sie sich nicht augenblicklich benehmen, werden wir den Getränkeservice einstellen!“
Sofort wird es still. Als ich der resoluten Dame beim Verlassen des Flugzeugs zu ihrer Taktik gratuliere, sagt sie: „Eigentlich mag ich die Deutschen. Die werden immer so nett, wenn sie betrunken sind.“ Auf Fassaden legte bei diesem Flug tatsächlich niemand mehr wert.
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