Gericht rügt Regierung und widerlegt Dobrindt-Aussage: Alles zum explosiven Asyl-Urteil
- Im Video oben: Die Wahrheit hinter Dobrindts Asylwende-Zahlen
In mehreren Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin einen ersten Beschluss zu den verschärften Grenzkontrollen und den Zurückweisungen von Asylsuchenden gefasst. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CDU) hatte die Bundespolizei Anfang Mai angewiesen, vorrangiges EU-Recht zu ignorieren und stattdessen nationale Gesetze anzuwenden. In den verhandelten Fällen hat das VG Berlin diese Praxis nun vorerst kassiert.
Trotzdem verweist Dobrindt auf Einzelfälle und will, wie Kanzler Friedrich Merz (CDU), an den Zurückweisungen festhalten. Der Beschluss liest sich allerdings an vielen Stellen wie eine schallende Ohrfeige für das Bundesinnenministerium und die Bundespolizei.
Denn mehrfach verweisen die Richter in dem 27-seitigen Beschluss auf grundsätzliche Aspekte und bezeichnen das deutsche Vorgehen als rechtswidrig. FOCUS online liegt ein anonymisierter Beschluss vor. Wir haben gemeinsam mit Rechtsexperten die wichtigsten Punkte analysiert.
Welchen Fall hat das VG Berlin behandelt?
Anfang Mai hat die Bundespolizei am Bahnhof Frankfurt (Oder) drei Somalier kontrolliert und aufgehalten. In diesem Zuge stellten sie einen Asylantrag. Wegen Dobrindts Weisung verweigerte die Bundespolizei ihnen die Einreise und wies sie wenige Stunden später nach Polen als sicheren Drittstaat zurück, ohne das der Asylantrag berücksichtigt wurde. Nach EU-Recht muss Deutschland zunächst prüfen, welches EU-Land für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig ist. Die genauen Abläufe sind in der Dublin-III-Verordnung geregelt.
Nach eigenen Angaben ist die Person, auf die sich der vorliegende Beschluss bezieht, über Belarus nach Litauen eingereist. Dort sei sie allerdings nicht registriert worden und anschließend über Polen nach Deutschland gereist. Nach der Zurückweisung habe eine private Nichtregierungsorganisation Nothilfe geleistet und trage die Kosten für die Unterkunft. Die Somalier haben gegen die Zurückweisung geklagt, weil sie gegen EU-Recht verstoße.
Was hat das VG Berlin beschlossen?
Zunächst hat eine Einzelrichterin am 26. Mai wegen der grundsätzlichen Bedeutung zur Entscheidung auf die Kammer übertragen. Das widerspricht Dobrindts Darstellung einer Einzelfall-Entscheidung. In der einstweiligen Anordnung hat diese die Bundespolizei nun verpflichtet, den Somaliern den Grenzübertritt zu gestatten. Zudem erhalten die drei ein Verfahren, um den zuständigen Mitgliedsstaat nach den Dublin-III-Regeln zu bestimmen.
Gleichwohl hat es festgestellt, dass die Bundespolizei ihnen eine darüber hinausgehende Einreise nach Deutschland nicht gestatten muss. Allerdings kann sie die Zurückweisung nicht wie von Dobrindt verlangt auf das Asylgesetz noch auf die Ausnahmeregelungen im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union stützen.
Dafür müsste das BMI konkrete Gründe nennen, was es nicht tat. Statistiken zu Asylantragszahlen reichten dem Gericht hier nicht aus. Außerdem dürfte es „keine anderen sekundärrechtlichen Instrumente geben“. Deutschland habe sich nicht ausreichend mit der EU und Polen koordiniert und gemeinsam nach einer Lösung gesucht, um sich auf die Ausnahmeregelungen zu berufen. Das Gericht spricht hier vom „Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“, der ebenfalls Teil des Vertragswerks ist.
Letztlich werde nicht ersichtlich, dass die Situation für deutsche Behörden nicht mehr zu bewältigen wäre oder die Funktionsfähigkeit des Staates bedroht wäre. Offen bleibe auch, wie sich Zurückweisungen an der Grenze darauf auswirken würden.
Warum ist das VG Berlin zuständig?
Die Antragsteller haben zunächst beim Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.
Das lag auch an einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung durch die Bundespolizei, die das Gericht in Frankfurt (Oder) als zuständig genannt hatte. Das hat sich jedoch für nicht zuständig erklärt, weil die handelnde Behörde die Bundespolizeidirektion Berlin ist. Deshalb hat es den Rechtsstreit an das VG Berlin verwiesen.
Was bedeutet die einstweilige Anordnung?
Bundesinnenminister Dobrindt hat dagegen angekündigt, ein Hauptsacheverfahren anzustreben. Er bekräftigte: „Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist und werden deswegen weiter so verfahren - ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung.“ Das VG Berlin betont allerdings: „Die Zurückweisung der Antragstellerin an der Grenze und ihre Rückführung nach Polen wird sich in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen.“ Deshalb drohten den Somaliern „schwere und unzumutbare“ Nachteile, weil der rechtswidrige Zustand andauere.
Das Gericht wird hier grundlegend und unterstreicht: Die Vorschrift des Asylgesetzes „kommt als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung aufgrund vorrangigen Unionsrechts nicht in Betracht.“ Damit bestätigt es die Rechtsauffassung von Experten, die vorab immer wieder darauf hingewiesen hatten. Viel mehr diene das Asylgesetz dazu, die Dublin-Regeln vor der Entscheidung über eine Einreise anzuwenden. Das hat die Bundespolizei nach Auffassung der Richter missachtet.
Auch vom Dublin-Verfahren getrennte Vereinbarungen mit Nachbarländern hält das Gericht für unrechtmäßig. Deshalb könne sich die Bundespolizei nicht auf ein Grenzabkommen mit Polen aus dem Jahr 2014 berufen.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar. Ein Hauptsacheverfahren könnte möglicherweise über mehrere Instanzen verhandelt werden.
Welche Auswirkungen hat das auf das deutsche Asylsystem?
Das Gericht stellt explizit klar, dass die Dublin-III-Verordnung nach Überzeugung der Kammer die entsprechenden Paragrafen im Asylgesetz verdrängt. Das bedeutet: Deutschland muss die Zuständigkeit eines Mitgliedsstaats prüfen, bevor jemand zurückgewiesen werden darf.
Deshalb spielt der Einreisevorgang keine Rolle: Die Dublin-III-Verordnung unterscheidet nicht zwischen einem Einreiseversuch und einer abgeschlossenen Einreise wie das deutsche Aufenthaltsgesetz. Oder wie das Gericht feststellt: „Die Dublin-III-Verordnung erlaubt keine Zurückweisung ohne Durchführung des darin geregelten vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates.“
Die Grenze, Grenzübergangsstellen und Transitzonen zählen nach EU-Recht zum Hoheitsgebiet. Deshalb muss Deutschland Asylanträge auch hier bearbeiten. Bundesinnenministerium und Bundespolizei hatten hier bislang mit einer Fiktion der Nichteinreise argumentiert und deshalb die Bearbeitung der Asylanträge abgelehnt.
Das kassiert das Gericht nun ein. Laut Asylverfahrensrichtlinie muss die Einreise nach einer Frist von vier Wochen gestattet werden. Grenzverfahren hält das Gericht dagegen mit Verweis auf die EU-Regeln für möglich, auch wenn es dazu keine deutschen Gesetze gibt.
Darüber hinaus zieht das VG Berlin auch Rückschlüsse für die Möglichkeit von Einreiseverweigerungen. Das geht nur, wenn „der Mitgliedstaat, an dessen Grenze der Antrag gestellt wird, für das weitere Verfahren zuständig ist und lediglich eine beschleunigte Antwort von dem Nachbarstaat anfordern kann.“
In der Regel sind die zuständigen Staaten die Ankunftsländer wie Griechenland, Italien oder Spanien. Weil Deutschland keine Grenze mit ihnen teilt, sind Zurückweisungen demnach kaum möglich.
Hält Deutschland einen anderen Mitgliedstaat für zuständig, müssen die Behörden eine Aufnahme des Antragstellers ersuchen. Erst nach der Zustimmung kann eine Überstellungsentscheidung erfolgen. Hintergrund ist, dass kein Vakuum bei der Zuständigkeit entstehen darf. Betroffene haben zudem das Recht, juristisch dagegen vorzugehen. Sollte der angefragte Staat die Zustimmung zu Unrecht verweigern, kann Deutschland nur ein sogenanntes Remonstrationsverfahren einleiten.
Obwohl das Gericht Polen als sicheren Drittstaat einstuft, sieht es eine „reale Gefahr“, dass die Somalier ohne die Möglichkeit eines Asylverfahrens nach Belarus zurückgeschickt werden. Das wäre ebenfalls ein Verstoß gegen internationales Recht. Polnische Behörden haben ein solches Verfahren zur Rückkehr nach Dokumentenlage bereits eingeleitet.
Worüber hat das VG Berlin nicht entschieden?
Im Beschluss stellt das VG Berlin klar: „Die Grenzkontrolle an sich ist nicht Gegenstand des Verfahrens.“ Weil die Zurückweisung aus anderen Gründen rechtswidrig sei, müsse sich die Rechtmäßigkeit der Grenzkontrollen selbst nicht geprüft werden.
Auch auf die Argumentation der Bundespolizei eines dysfunktionalen EU-weiten Asylsystems geht das VG Berlin nicht weiter ein. Es verweist allerdings darauf, dass der Europäische Gerichtshof hier bereits mehrere Urteile getroffen hat. Der Tenor: Auch bei einem Massenzustrom dürfen die Mitgliedstaaten nicht einfach gegen Unionsrecht verstoßen; selbst wenn andere die Verordnungen missachten.