Kempten: Achtung, Baum fällt!, heißt es oft, wenn neue Häuser entstehen sollen. Warum das so ist

  1. Startseite
  2. Bayern
  3. Augsburg & Schwaben
  4. Kreisbote Kempten

Kommentare

Ein Stück Natur konnte beim Bau eines Wohngebäudes durch SWW Oberallgäu bewahrt werden. In der Flurstraße in Sonthofen blieb eine Rotbuche stehen. Wie Unternehmenssprecherin Chiara Cordella betont, sei man stets bemüht, den Baumbestand zu erhalten. Allerdings seien durch den Erhalt und Unterhalt der Rotbuche erhebliche Kosten entstanden, die nicht immer tragbar sind. Alternativ gilt es Neupflanzungen vorzunehmen, die idealerweise umfangreicher ausfallen als der bisherige Bestand, so Cordella. © Manfred Köhler für SWW Oberallgäu

In diesem zweiten Teil der Baumserie dreht sich alles um Bäume bei Bauprojekten. Wir blicken hinter die Entscheidungsmechanismen, die Baumfällungen hier zu Grunde liegen und fragen nach bei verschiedenen Seiten.

Kempten – Allen sind die vier Linden an der Kotterner Straße noch im Gedächtnis, die jüngst für einen geplanten Erweiterungsbau an der einstigen Zulassungsstelle umgesägt wurden. Am Holzplatz wurden 2020 Bäume für die Errichtung von Container-Wohnungen gefällt, errichtet ist das Bauwerk allerdings noch nicht, gleiches Bild an der Ecke Bodmanstraße/Adenauerring. „Es wird zu wenig danach gefragt, ob es auch Baulösungen gibt, mit denen die Bäume zu retten wären“, findet die Beauftragte des Kemptener Stadtrates für Landwirtschaft, Umwelt- und Klimaschutz Gerti Epple (Grüne).

Da Bäume neben einer hohen Klimawirkung auch eine bedeutende Hitzeschutzwirkung für die Menschen der Stadt haben, sollte von Seiten der Bauherren und der Stadt mehr auf den Erhalt dieser wertvollen Pflanzenriesen geachtet werden, findet sie. Epple stört sich auch an der teilweise langen Zeit zwischen Baumfällungen und Baubeginn. Könnte man in einem städtebaulichen Vertrag festhalten, dass die CO2- und Schattenspender erst verschwinden, kurz bevor der Bagger anrollt?

Nein, sagt Baureferent Tim Koemstedt, das könne man den Bauherren nicht vorschreiben. Eine Baugenehmigung gelte erst einmal vier Jahre lang. „Der Bauherr hat das Recht und die Pflicht, zu bauen.“

Beim Baurecht gibt es Unterschiede

Im Innenbereich von Gemeinden und Städten sind Bauvorhaben nach § 34 des Baugesetzbuchs (BauGB) zulässig, wenn sie sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung einfügen. Hier können städtebauliche Verträge nicht jedem Häuslebauer aufgenötigt werden, wenn er schon Baurecht hat, erläutert der Leiter des Stadtplanungsamtes Florian Eggert. Solche Verträge werden meist dann geschlossen, wenn vorhabenbezogene Bebauungspläne erstellt werden, nämlich immer dann, wenn Art und Maß der baulichen Nutzung von der umliegenden Bebauung abweichen, zum Beispiel eine dichtere Ausnutzung der Grundstücksfläche oder mehr Geschosse als im Umgriff angedacht sind.

Gilt in einem Gebiet ein Bebauungsplan, muss dieser dann mit einer Änderung angepasst werden. „In beiden Fällen achten wir darauf, dass die Grünstrukturen auf den Grundstücken so gut wie möglich gewürdigt werden“, versichert er. Beispiele sind die Parkstadt Engelhalde mit einem eigenem Grüngestaltungsplan oder das Vorhaben in der Ellharter Straße, wo 20 neue Wohnungen auf einem Villengrundstück gebaut werden sollen. Hier legte der Gestaltungsbeirat fest, dass der Erhalt des Baumbestandes oberste Priorität hat.

„Ober sticht Unter“

Aber kann der Baum- und Artenschutz nicht generell als Kriterium für eine Baugenehmigung herangezogen werden, gerade mit der Kemptener Baumschutzverordnung? Franz G. Schröck, Vorsitzender des Architekturforum Allgäu, ebenfalls ein Baum-Fürsprecher, nennt als Beispiel die Grünflächen-Zahl des Bundeslandes Salzburg. Dieses städtebauliche Instrument schreibt einen Mindestanteil an Begrünung für Bauprojekte vor. Sie definiert das Verhältnis von Elementen wie Bäumen, Vegetationsflächen, unversiegelten Flächen sowie Dach- und Fassadenbegrünungen zur Gesamtfläche eines Bauplatzes, der Fassaden und Dächer eines Gebäudes. Mit der Änderung des Salzburger Bautechnikgesetzes 2015 und des Baupolizeigesetzes 1997 wurde sie als verpflichtender Bestandteil eingeführt.

In Kempten den Baumschutz bei Bauvorhaben einzufordern, sei so nicht möglich, verneint Eggert. Da das Baurecht als Bundesgesetz ein höherwertiges Recht darstellt als die Baumschutzverordnung, habe man hier keine Handhabe. Bei den einzelnen Rechtsgrundlagen gelte eine hierarchische Struktur. Unantastbar ist das EU-Recht, dann folgen Bundes- und Landesrecht, und ganz unten stehen die kommunalen Satzungen wie die Baumschutzverordnung.

Eggert erklärt den Entscheidungsmechanismus am Holzplatz-Beispiel: Wenn wie hier in einem Stadtteil kein Bebauungsplan gilt, und sich ein Bauvorhaben alle in § 34 BauGB geforderten Kriterien erfüllt, haben die Entscheidungsträger im Bauausschuss wenig Spielraum. Sie müssen der Bauherrin oder dem Bauherren das Projekt genehmigen. Baumschutz spiele bei diesen gesetzlichen Voraussetzungen eine untergeordnete Rolle. Auch in einem Gebiet mit Bebauungsplan dürfen Baulücken geschlossen werden, dort bestehe ebenfalls Baurecht. Kollidiert eine Baugenehmigung mit der Baumschutzverordnung, wird die Abweichung in der Genehmigung festgehalten und Ersatzpflanzungen festgelegt.

Eine eingehende Beratung im Vorfeld könne die Bauherrenschaften oft ebenfalls nicht zu einer baumschonenderen Bauweise bewegen. „Uns blutet das Herz bei jedem Baum, der gefällt werden muss“, sagt Andrea Gengenbach, Leiterin des Amts für Umwelt- und Naturschutz, „aber wir können den Bauherren nicht vorschreiben, wie sie bauen sollen.“

Vom Wert der Bäume

Erfolg auf diesem Gebiet kann der Umweltreferent des Sonthofer Stadtrats Michael Borth vorweisen. Er hat bereits Bauwerber zur Umplanung bewegt, um einen Baum zu schützen. „Der Bauherr hat die Vorteile des Baumes für sein Gebäude erkannt“, erzählt er. Denn die grünen Großpflanzen sorgten für Harmonie im Stadtbild, sie prägten die Straßenräume stark. „Wichtig ist es, den Wert der Bäume zu verdeutlichen“, erklärt der ausgebildete Landschaftsplaner sein Rezept.

„Ein großer Baum kostet 26.000 Euro in der Baumschule. Hinzu kommen nicht unerhebliche Kosten für Transport, Pflanzung und Baumschutz.“ Seinen jährlichen Benefit beziffert Borth auf 7.000 bis 10.000 Euro. Denn so ein grüner Kraftprotz sorge für Kühlung, verdunste Wasser, regle die Luftfeuchte und ermögliche Biodiversität. Tiere seien speziell auf alte Exemplare angewiesen. Mit der sogenannten aktualisierten „Gehölzwerttabelle“ bemessen Versicherungen den Wert beschädigter Bäume zum Beispiel bei Autounfällen.

Bei älteren größeren käme da schnell ein Wert von 100.000 Euro zusammen. Borth erinnert sich auch an eine Begebenheit, bei der eine Baufirma versehentlich zwei zehn Meter hohe Bäume des Nachbarn gefällt hatte. Der Gutachter habe jeden von ihnen auf 4.000 Euro geschätzt. „Der ideelle Wert eines Baumes ist etwas ganz anderes als der reine Hackschnitzelwert“, sagt er und erinnert an die Linden, auf denen einst getanzt oder unter denen Gericht gehalten wurde.

Die Nachverdichtung spielt größere Rolle

Was die Baunutzungsverordnung (Teil des Baugesetzbuches) bei Vorhaben zudem vorsieht, ist die sogenannte „Grundflächenzahl (GRZ)“, die so ähnlich funktioniere wie die Salzburger Grünflächenzahl. Diese in den einzelnen Bebauungsplänen festgelegte GRZ definiert das Verhältnis von versiegelter Fläche zur Gesamtgröße eines Grundstücks und hilft dabei, Aussagen über die Biodiversität in einem Gebiet zu treffen. „Nicht versiegelte Flächen sind gärtnerisch anzulegen“, erklärt Baureferent Koemstedt Artikel 7 aus der Bayerischen Bauordnung. „Es ist eine Frage der Kontrolle. Was einmal grün war, sollte auch grün bleiben“, verdeutlicht er eine Problematik.

Liegt die GRZ zum Beispiel bei 0,6 und die Grundstücksgröße bei 300 Quadratmetern, dürfen 180 Quadratmeter überbaut werden. Je näher die Grundflächenzahl an 1,0 liegt, desto geringer der Anteil an Grün. In der Baunutzungsverordnung ist zum Beispiel für reine Wohngebiete der Wert 0,4 vermerkt, für urbane Gebiete 0,8, für Kerngebiete 1,0 und dörfliche Gebiete 0,6. Früher handelte es sich hier um Höchstwerte, erklärt Eggert. „Jetzt ist das aber nicht mehr so.“ Der Bundesgesetzgeber hat die Zahlen in einer der letzten Novellen als Orientierung für Obergrenzen definiert. „Natürlich muss man eine dichtere Bebauung entsprechend begründen“, so der Fachmann. Zum Beispiel könne eine intensiv begrünte Tiefgarage eine etwas höhere GRZ rechtfertigen.

In welche Richtung bewegen wir uns?

Die einzige regulative Möglichkeit, Bäumen beim Bauen mehr Schutz einzuräumen, wäre also eine Änderung im auf Bundesebene angesiedelten BauGB. Auch die Kemptener Baumschutzverordnung als ergänzende kommunales Satzung hat ihre Grundlage in einem Bundesgesetz. Entschieden, sie in Kempten umzusetzen, hat der Stadtrat. Wie Eggert erklärt, ist für das BauGB bereits eine Novelle für mehr Klimaschutz auf dem Weg. Doch sei sie gerade ins Stocken geraten und enthalte auch keinen Paragraphen für mehr Baumschutz.

Ganz im Gegenteil, am „Modernisierungs- und Beschleunigungsprogramm 2030“, das in Bayern für weniger Bürokratie und mehr Baukonjunktur sorgen soll und das seit Anfang des Jahres in Kraft ist, zeigt sich, dass die Nachverdichtung einen höheren Stellenwert bekommt als der Schutz von Grünstruktur. Es wurde sogar diskutiert, alle „Grüngestaltungssatzungen“ per Dekret zu streichen. Als Begründung spielten hier auch die Kosten für die Bauherren eine Rolle, wenn sie zum Beispiel Bäume in einer bestimmten Mindestgröße pflanzen müssen.

Auf der einen Seite ist das sehr verständlich, denn wir brauchen bezahlbaren Wohnraum, findet Andrea Gengenbach. „Und der muss da hin, wo Stadt ist, wo konzentrierte Flächen und Infrastruktur sind.“ Außerhalb der Städte würden gleichzeitig jedoch weit mehr Bäume gefällt. „Wenn in der Stadt ein Baum fällt, ist der natürlich sehr im Fokus. Man muss jedoch auch ins Verhältnis setzen, wie viele Bäume im Außenbereich für Baumaterial, Heiz-Pellets oder die Papierindustrie gerodet werden“, fordert sie.

Ersatzpflanzungen

Nun sieht die Baumschutzverordnung eine Kompensation für gefällte Bäume vor. Aber was ist ein angemessener Ausgleich? Ein hundertjähriger Baumriese benötigt laut Landschaftsarchitekt Enzo Enea 2.000 junge Ersatzbäume für ökologisches Gleichgewicht. „Von Enzo Enea gibt es keine einschlägige Fachliteratur“, so Andrea Gengenbach, er sei somit keine Referenz. „Wir greifen auf die „Bayerische Kompensationsverordnung“ zurück oder auf „Bauen in Einklang mit Landschaft und Natur“.

Enea habe aber insofern recht, als dass ein alter Baum ökologisch wesentlich wertvoller sei als ein junger. „Die Ökosystemleistung, die ein alter Baum erbringt, wird mit der Ersatzpflanzung meist nicht aufgewogen, weil leider in der Baumschutzverordnung so schwach kompensiert wird“, bedauert Gengenbach die einst politisch festgelegten Vorgaben. An der Kotterner Straße sind es pro großer, alter Linde zwei junge Bäume. „Wir würden uns wünschen, mehr als Kompensation fordern zu können“, so die Amtsleiterin. Dass die Bauherren freiwillig mehr kompensieren, sei noch nicht vorgekommen, seit sie in Kempten ist.

Sozialbaugeschäftsführer: „Jeder schaut durch eine andere Brille“

„Bei den Ausgleichsleistungen würde ich jetzt gar nicht einmal aufs Geld schauen“, sagt Martin Langenmaier, Geschäftsführer bei Sozialbau Kempten Wohnungs- und Städtebau GmbH, bei deren Bauvorhaben auch vorhabenbezogene Bebauungspläne zum Tragen kommen. Zum Stadtjubiläum „200 Jahre vereintes Kempten“ vor sieben Jahren ist das Unternehmen mit gutem Beispiel vorangegangen und hat 200 drei- bis vier Meter große Bäume spendiert.

Für Langenmaier stellt der Baum-Ausgleich einen Kompromiss dar. „Ich muss das eine bekommen, ohne das andere zu lassen“, findet er und wirbt um Verständnis für alle am Prozess Beteiligten. Es sei nicht einfach für die Bauträger, überhaupt eine geeignete Fläche zu ergattern. Eine Vielzahl an Faktoren müssen beachtet werden: Artenschutz, Lärmschutz, Immissionsschutz, Grundwassermanagement, Abwasserbeseitigung, Hochwasserschutz, Verkehrsbelastung, Boden- und Altlasten, Grünschutz, (Boden-)Denkmäler und und und. Ob allem Rechnung getragen wird, müssten die gewählten Vertreter beurteilen. In ihre Entscheidung fließe ein, wie wichtig das jeweilige Bauvorhaben ist.

Von der Öffentlichkeit und den NGOs wünscht sich Langenmaier mehr Vertrauen und die Akzeptanz dieser Entscheidungen. „Jeder hat eine eigene Brille für sein Thema“, sagt er. Das sei auch okay. Grünschutz und Wohnungsbau müssten aus seiner Sicht beide in gutem Maße erreicht werden. „Aber Protest im Nachgang bremst nicht nur den Einzelnen aus, sondern auch die ganze Gesellschaft.“

Um Bau und Baum mehr in Einklang zu bringen, ruft Andrea Gengenbach dazu auf, dass die Fachämter früher miteinbezogen werden, nämlich bereits bevor die Planung feststeht. Wenn Bauherren vor Erstellung der konkreten Pläne gut beraten würden, könnte ggf. der eine oder andere Baum erhalten werden.

Wie Eggert einräumt, ist es manchmal aber nicht möglich, alle Bäume auf einem Grundstück zu retten und gleichzeitig wirtschaftlich Wohnraum zu schaffen. „Es muss in der Abwägung geschehen“, sagt er. Seiner Meinung nach sollte man sich viel öfter einen Baum in den Garten stellen und versiegelte und Schottergärten vermeiden. „Der Hitze in der Stadt entgegenzuwirken, ist eine Gemeinschaftsaufgabe“, sagt er. Die Stadt besitze gar nicht ausreichend Grundstücke dafür.

Hier geht es zum ersten Teil der Baumserie.

Mit dem Kreisbote-Newsletter täglich zum Feierabend oder mit der neuen „Kreisbote“-App immer aktuell über die wichtigsten Geschichten informiert.

Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.

Auch interessant

Kommentare