„Man lässt einen Menschen sterben“: Menschliches Drama mitten in oberbayerischer Stadt

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Ein beklemmendes Bild: Eine psychisch kranke Obdachlose schläft seit Wochen in Wolfratshausen im Freien. Hilfe von Caritas-Mitarbeiterin Ines Lobenstein lehnt sie ab. Laut fachärztlichem Attest sollte Frau in einer psychiatrischen Einrichtung betreut werden. Doch für die Fachklinik Agatharied gibt es keinen Unterbringungsgrund. © red

Ihr Vater ist völlig verzweifelt: Seit Wochen schläft eine Obdachlose in Wolfratshausen im Freien. Laut ärztlichem Gutachten ist sie psychisch krank, doch eine Fachklinik sieht keinen Unterbringungsgrund.

Wolfratshausen – Mitten in Wolfratshausen spielt sich seit Wochen ein menschliches Drama ab. Im Mittelpunkt: eine 47 Jahre alte offenkundig hilflose Frau. Ines Lobenstein von der Caritas-Obdachlosenhilfe beschäftigt der tragische Fall seit mittlerweile rund zwei Monaten. Lobenstein hat die Befürchtung, „dass die Frau erfriert“. Auch Wolfratshausens Polizeichef Andreas Czerweny berührt das Schicksal der mageren Frau mit den zerzausten Haaren, die ziellos durch die Flößerstadt streift und selbst bei zweistelligen Minusgraden im Freien übernachtet. „Die Polizei hat alles getan, was in ihrer Macht steht“, sagt der Erste Hauptkommissar auf Anfrage unserer Zeitung. Nachhaltig und vor allem schnell geholfen werden müsse der Obdachlosen an anderer Stelle.

„Man lässt einen Menschen sterben“: Menschliches Drama mitten in Stadt in Oberbayern

Beinahe täglich sitzt Petra Müller (Name geändert) in sich gekauert in der Altstadt. Nur mit einer dünnen Jacke bekleidet, häufig ohne Schuhe. Viele Geschäftsleute und Passanten wollen ihr Gutes tun. Sei es in Form einer warmen Mahlzeit, einem Becher Kaffee oder mit einer dicken Decke, die man ihr reicht. Doch die stark unterernährte Obdachlose ist laut fachärztlichem Attest chronisch schizophren und nach Worten von Caritas-Mitarbeiterin Lobenstein aufgrund ihres Krankheitsbilds nicht in der Lage, Hilfestellungen anzunehmen. Oft reagiert Müller wütend und beschimpft die Menschen, denen sie nicht gleichgültig ist. Einmal mehr versuchte es Lobenstein am Donnerstag. Ohne Erfolg. Barfüßig und mit sich selbst redend irrt Müller weiter durch die Marktstraße.

Nur durch eine sehr zeitnahe Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung kann die akute Gefährdung entschärft werden.

Die Obdachlose, die unter gesetzlicher Betreuung steht, lebte ursprünglich in Witten in Nordrhein-Westfalen. Von dort nahm sie Reißaus, weil sie die Wahnvorstellung hatte, dass sie in ihrer Wohnung vergiftet werden solle. Anfang November vergangenen Jahres tauchte sie in der Flößerstadt auf – und beschäftigt seither mitunter die Polizei. Mehrfach griff eine Streife Müller auf, das Amtsgericht Wolfratshausen und das Gesundheitsamt in Bad Tölz wurden in Kenntnis gesetzt. Erst vor wenigen Tagen wählten Augenzeugen den Notruf, weil die 47-Jährige apathisch in der St.-Andreas-Kirche saß. Nach Informationen unserer Zeitung erließ das Amtsgericht einen Unterbringungsbeschluss, die Polizei brachte die 47-Jährige ins Krankenhaus Agatharied. Zuvor hatte ein renommierter Psychiater aus dem Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen in einem fachärztlichen Attest, das unserer Redaktion vorliegt, festgestellt: „Nur durch eine sehr zeitnahe Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung kann die akute Gefährdung entschärft werden.“ Über die Dauer der Unterbringung müsse „im Verlauf der psychiatrischen Behandlung“ entschieden werden.

Gutachter geht von einer „akuten Gefährdungslage“ aus

Zudem wies der Psychiater in seinem Gutachten darauf hin: Aufgrund der „tiefgreifenden chronischen Erkrankung“ in Kombination „von prekärer Witterung“ und „eskalierter psychotischer Symptomatik“ sei von einer „akuten Gefährdungslage“ auszugehen. Unterernährung, kaum Schutz vor Wind und Wetter und ein fehlender Schlafplatz „formen eine akute lebensbedrohliche Konstellation“.

Die Hoffnung aller Beteiligter, dass der Frau in der Fachklinik Agatharied geholfen wird, in die sie am 2. Februar eine Streife brachte, erfüllte sich nicht. Eine Selbstgefährdung sei nicht zu erkennen, somit gebe es keinen Unterbringungsgrund, konstatierte die Klinik am Dienstag dieser Woche. Petra Müller wurde wieder entlassen. „In die Obdachlosigkeit, einfach auf die Straße“, stellt Lobenstein fassungslos fest. Das Krankenhaus, das zur gemeinnützigen kbo-Lech-Mangfall-Kliniken GmbH gehört, hüllt sich auf Anfrage unserer Zeitung in Schweigen. Der Grund: Datenschutz.

Vater ist verzweifelt: „Sie hat doch keinen freien Willen“

Petra Müllers Vater, 84 Jahre alt, lebt in Hessen. Er ist aufgrund der Entscheidung der Fachklinik verzweifelt, bangt Tag und Nacht um das Leben seiner Tochter. „Sie hat doch keinen freien Willen“, sagt er. Die 47-Jährige sei von ihren Wahnvorstellungen beherrscht – „und selbst nicht in der Lage einzuschätzen, welchen Gefahren sie sich aussetzt, wenn sie in Kälte, Nässe und Schmutz auf der Straße lebt“. Die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung wäre für seine Tochter die Chance, „überleben“ zu können. „Ich sehe keinen anderen Ausweg“, so der 84-Jährige.

Da lässt man jetzt einen Menschen auf der Straße sterben, weil – angeblich – seine persönliche Freiheit geschützt wird. 

Caritas-Mitarbeiterin Lobenstein ist derselben Meinung. Sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass das Drama doch noch eine gute Wendung nimmt: „Irgendjemand muss sich doch dieser Frau erbarmen.“ Für Hauptkommissar Czerweny muss schon von Berufs wegen alles seine Ordnung haben. Doch zwischen Attesten, Unterbringungsbeschlüssen, Vollzugshilfen und Protokollnotizen dürfe eines nicht vergessen werden: „Es geht um einen Menschen.“

Mitgefühl der Menschen berührt den Vater sehr

Für einen 84-Jährigen in Hessen geht’s ganz konkret um seine Tochter. Das Mitgefühl der Wolfratshauser – allen voran Ines Lobenstein – berühre ihn sehr. Doch laut Fachklinik könne seine Tochter selbst über ihr Leben entscheiden – „und eine gesunde Person kann sich dafür entscheiden, auf der Straße zu leben, so sind unsere Gesetze“. Das eindeutige fachärztliche Attest sei offenbar ignoriert worden. Verbittert stellt der Vater fest: „Da lässt man jetzt einen Menschen auf der Straße sterben, weil – angeblich – seine persönliche Freiheit geschützt wird.“ (cce)

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