Mit ihrer Putin-Behauptung spielt Merkel direkt in die Karten des Kreml

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hört man immer wieder von deutschen Politikern, dass man doch den Nachbarn aus Polen und den baltischen Staaten besser hätte zuhören sollen. Sie hatten seit dem Angriff auf Georgien 2008, der Annexion der Krim 2014 und dem russischen Angriff auf den Osten der Ukraine im gleichen Jahr eindringlich vor weiteren Aggressionen gewarnt.

Die offene Frage der Verantwortung

Angela Merkel hat jetzt im Gespräch mit dem ungarischen Medium "Partizán" das Gegenteil vertreten. Sie sagte, dass ihre Bemühungen um ein weiteres Abkommen in der Logik des "Minsk 2"-Abkommens – also verstärkte diplomatische Bemühungen gegenüber Russland – gerade von den Baltischen Staaten und Polen verhindert wurden. Und dann hätte das Russland von Wladimir Putin folglich – nach ihren verhinderten Bemühungen und nach dem Ende ihrer Regierungszeit – angegriffen.

Merkel suggerierte damit, dass die baltischen Staaten und Polen nicht nur von ihr im Umgang mit Russland hätten lernen sollen, sondern vielleicht selbst den Krieg befördert hätten. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hatte dagegen bei der Aufstellung der Panzerbrigade 45 in Litauen am 22. Mai 2025 in aller Deutlichkeit das Gegenteil erklärt:  "Die baltischen Staaten haben schon lange verstanden (…), während einige in Deutschland immer noch Illusionen über Putins Regime hatten."

Die Debatte, wer Aggressor, wer Schuld und wer von wem lernen sollte, ist damit noch nicht abgeschlossen. Die "Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit" hat dieses Jahr in Vilnius ihr Freedom Center eröffnet, um mehr aus den baltischen Staaten zu lernen. Stiftungsvorstand Anne Brasseur machte bei der Eröffnung im Juni 2025 deutlich, dass das auch auf die Einschätzung russischer Politik zutrifft.

Scharfe Kritik an Merkels Aussagen

Kaja Kallas, ehemalige liberale Premierministerin Estlands und heutige EU-Außenbeauftragte, drückte es 2022 in einem Interview so aus: "Es war ein Fehler, Russland für seine Aggressionen in Georgien und der Ukraine nicht zu bestrafen. (…) Die einzige Lösung ist, Russland in seine Grenzen zurückzudrängen. Sodass Putin nichts verliert, aber auch nichts gewinnt. Alles andere bedeutet, dass sich die Aggression für ihn ausgezahlt hat."

Jonas Öhman, Gründer von Blue/Yellow, der litauischen NGO, die seit 2014 über 100 Millionen Euro an privaten Spenden gesammelt hat, um die Ukraine an der Front zu unterstützen, meint, dass Angela Merkel direkt in die Karten des Kremls spielt: "Während Russland täglich Zivilisten in der Ukraine bombardiert und auch vermehrt hybrid und mit Drohnen Mitgliedstaaten von NATO und EU attackiert, verdreht Angela Merkel die Schuld an einem Krieg, der allein von Russland ausgeht."

Der gebürtige Schwede ergänzt: "Es ist seltsam, wenn Menschen auch noch nach 2022 glauben, ein Aggressor sei nur mit Diplomatie und Wirtschaftsanreizen zu beschwichtigen. Aber wenn jemand von der Erfahrung und dem Wissen von Angela Merkel das öffentlich tut, wirkt das wie eine russische Desinformationskampagne."

Der ehemalige lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks formulierte es auf X noch schärfer: "Das Problem mit einer solchen Verlautbarung von Merkel ist, dass sie wie aus dem Strategiebuch des Kremls klingt und dessen Agenda befördert: die Europäer zu spalten (…) Sie klingt wie ein Agent russischen Einflusses."

Die umstrittene Logik hinter dem Minsk-Abkommen

Angela Merkel hatte wiederholt betont, dass die diplomatischen Bemühungen, die im Februar 2015 zum zweiten Abkommen von Minsk führten, Russland damals zum Einlenken gebracht hätten. Das hätte der Ukraine wichtige Zeit gegeben, sich besser gegen zukünftige Angriffe zu schützen.

Jonas Öhman, während der Minsker Verhandlungen selbst unter russischem Mörserbeschuss an der Front, schätzt die Situation anders ein: "Diese Verhandlungen und das zweite Minsker Abkommen schufen im Westen die Illusion, man könne allein durch Diplomatie die Aggression Russlands gegen die Ukraine stoppen. Dabei hatte Russland alle damaligen Ziele bereits erreicht und dankte für die nachträgliche Legitimierung eines Status quo, bei dem es die eroberten Gebiete auf der Krim und im Donbas weiter kontrollierte. Und Russland musste dazu nicht einmal eine einzige Feuerpause an der Front einhalten. Man feierte einen Erfolg, der immer nur eine Selbsttäuschung des Westens war."

Realistischere Einschätzungen aus den baltischen Staaten

Die Stimmen aus dem Baltikum zeigen, dass Realismus als verfälschte Emotionalität missverstanden werden kann. Während Merkel weiter an die Kraft von Diplomatie und wirtschaftlicher Verflechtung glauben will, haben Esten, Letten, Litauer und Polen längst gelernt, dass Frieden wie Freiheit nur erkämpft werden und mit glaubwürdiger Abschreckung gesichert werden können.

Wer Russland verstehen will, sollte die nicht ignorieren, die mehr gemeinsame Erfahrung teilen und Russland am nächsten leben. Nicht die baltische Emotionalität, sondern die westliche Selbsttäuschung hat Europa blind gemacht – und Merkels späte Verteidigung ihrer Russlandpolitik beweist, dass die gefährlichsten Illusionen weiterleben.

Über den Gastautor

Julius von Freytag-Loringhoven leitete von 2012 bis 2020 das Büro Moskau der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit und leitet seit 2024 das Büro Baltische Staaten der Stiftung mit Freedom Center in Vilnius.