Beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche ist frischer Wind in die Debatte um die Nutzung eingefrorener russischer Vermögen gekommen. Viele Experten sahen das als positives Zeichen: Man könne Russland schaden, indem das Geld weiter einbehalten und zumindest die Zinsen daraus sogar für den Wiederaufbau der Ukraine nutzbar gemacht würden. So könne man das Regime von Präsident Wladimir Putin mit seinen eigenen Waffen schlagen.
Doch während die deutsche Bundesregierung das Vorgehen unterstützt, gibt es Widerstand, zum Beispiel aus Belgien und Ungarn. In dieser Gemengelage haben nun zwei Experten einen überraschenden Vorschlag gemacht.
Experten: Russland durch Kapitalabfluss schwächen
Veronica Anghel, Assistenzprofessorin am Europäischen Hochschulinstitut, und Sergey Radchenko, Professor an der School of Advanced International Studies, ziehen in einem Beitrag für die Fachzeitschrift "Foreign Affairs" einen historischen Vergleich: In den 1990er-Jahren sei Russland wirtschaftlich zusammengebrochen, weil es einen massiven Kapitalabfluss gegeben habe. Ähnliches haben die beiden Autoren für die aktuelle Lage im Sinn.
Nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 sei aber das Gegenteil passiert, beschreiben Anghel und Radchenko: "Russland schützte seine Wirtschaft durch eine Kombination aus aggressiven fiskalischen Anreizen und strengen Kontrollen und verhinderte so effektiv eine massive Kapitalflucht."
Russische Oligarchen und Geschäftsleute hätten zudem die Beschlagnahmung ihrer Vermögenswerte im Ausland befürchtet und seien daher unter die schützenden Hände Moskaus zurückgekehrt, wo Putin sie freudig willkommen geheißen habe. Diese "Festungsstrategie" Putins sei durch die Sanktionen der USA und der EU teilweise noch verstärkt worden. "Das Ergebnis: Russland vermied die Art von Zahlungsbilanzkrise, die den Staat in den 1990er Jahren lahmgelegt hatte", schrieben die beiden Autoren.
Europa könnte gegen Russland auf "gezielte Subversion" setzen
Als Alternative schlagen sie vor, statt die Wagenburg-Mentalität zu fördern, das "innere Gleichgewicht" der russischen Wirtschaft zu stören. "Zu diesem Zweck muss Europa die Abwanderung von Eliten und Kapitalflucht fördern", fordern Anghel und Radchenko in "Foreign Affairs".
Zwar müsse russisches Kapital weiter streng kontrolliert werden. "Aber die Schaffung selektiver Ausstiegsmöglichkeiten für Insider des Regimes sowie sicherer Kanäle für die Verlagerung ihrer Vermögenswerte kann als eine Form gezielter Subversion dienen." Europa müsse denjenigen, die bereit sind, das sinkende Schiff zu verlassen – und ihr Wissen und ihr Geld mitzunehmen –, eine Fluchtmöglichkeit bieten. So könnten die Elitennetzwerke zerschlagen werden, die eine wichtige Rolle bei Putins Machterhalt spielen.
Wissenschaftler, Ärzte, ITler sollen "mit Füßen abstimmen"
Aber auch abseits der Oligarchen müsse Europa mehr um Russen werben, betonen die beiden Wissenschaftler. Man müsse mehr tun, "um russische Fachkräfte anzuziehen, die bereit sind, aus der Reihe zu tanzen, ihre russische Staatsbürgerschaft aufzugeben und sich in Europa niederzulassen". Ihr Weggang würde das Regime von innen heraus schwächen.
Wissenschaftler, Ärzte und IT-Spezialisten würden das Rückgrat der russischen Kriegswirtschaft bilden. Indem sie "mit den Füßen abstimmen", könne Europa Talente abziehen, den Verfall beschleunigen und den Kreml unter Druck setzen, seine Grenzen zu schließen – eine Maßnahme, die Putins Autoritarismus offenbaren und seinen Niedergang beschleunigen würde.
Strategie könnte sogar Ungarn und Slowakei überzeugen
Anghel und Radchenko weisen darauf hin, dass diese Strategie weitere Vorteile hat im Gegensatz zu einem harten Sanktionsregime. "Paradoxerweise könnten die europäischen Staaten Subversionstaktiken leichter koordinieren und umsetzen als konventionellere Maßnahmen", schreiben sie.
"Denn Subversion beruht auf nationaler Kompetenz und nicht auf Einstimmigkeit innerhalb der EU." Selbst Skeptiker wie Ungarn oder die Slowakei können die selektive Aufnahme hochqualifizierter russischer Arbeitskräfte und Eliten als humanitäre, wachstumsfördernde Maßnahme darstellen und nicht als Eskalation der Feindseligkeiten.
Erhöht die Russen-Anwerbung die Gefahr von Spionage?
Die beiden Wissenschaftler gehen auch auf das wohl wichtigste Gegenargument ihrer Strategie ein – die steigende Gefahr von Infiltration und Spionage durch vermeintliche russische Flüchtlinge. Anghel und Radchenko sehen das Risiko als überbewertet an: "Russische Geheimdienstmitarbeiter sind bereits in großer Zahl in Europa präsent, und jeder weitere Anstieg kann durch bessere Spionageabwehr und Sorgfaltspflichten teilweise neutralisiert werden."
Die Experten schlussfolgern: "Für Europa wäre die Gefahr überschaubar, aber die potenziellen Auswirkungen auf die ohnehin schon angespannte Wirtschaft Russlands können nicht hoch genug eingeschätzt werden."