Freude, Ungewissheit, Angst: Wie Syrer vom Starnberger See auf ihr Land blicken
Nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad blicken Syrer aus der Region ganz unterschiedlich auf ihre alte Heimat. Parallel zur Erleichterung über das Ende des brutalen Regimes existieren Ängste: vor radikalen Gruppen, die es auf Familienmitglieder abgesehen haben, oder vor den militärischen Aktionen Israels und der Türkei.
Landkreis - Ein Kurde, ein Palästinenser und ein mittlerweile deutscher Staatsbürger, der aus Damaskus stammt: Man muss nur mit drei Menschen syrischer Herkunft reden, um zu verstehen, wie komplex die Situation in dem Land ist. Und was die Vorgänge im Nahen Osten – der Sturz von Machthaber Baschar al-Assad, die Übernahme der Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) um Mohammed al-Dschulani, die Übergangsregierung um Mohammed al-Baschir, die Interventionen der Türkei und Israels – für die Bevölkerung bedeuten. Aber auch für drei Familien, die seit einigen Jahren am Starnberger See leben und in diesen Tagen aus ihrer ganz persönlichen Perspektive auf Syrien blicken. Weil sich Verwandte und Bekannte von ihnen in Gefahr oder zumindest einer sehr ungewissen Lage befinden, wollen sie nicht mit ihrem Nachnamen in den Medien erscheinen. Der Starnberger Merkur erhielt ihre Kontakte von Flüchtlingshelfern.
Ein Palästinenser hat Angst um seinen Bruder
„In Tutzing kennen mich alle“, sagt Rami M. Als Postmitarbeiter belieferte er den Ort zwischen 2017 und 2023, seither arbeitet er an der Wache der Bundeswehr-Kaserne in Pöcking. Der 43-Jährige wohnt in Bernried. „Ich telefoniere zehn- bis 15-mal am Tag mit meinem Bruder oder anderen Familienmitgliedern“, erzählt Rami M. Sein Bruder habe erst in diesen Tagen wieder einen Drohanruf erhalten, nach dem Motto: „Wir haben dich nicht vergessen.“ Auch er selbst stehe „auf der Liste“.
Die Vorgeschichte: Rami M. hat 2012 seinen Vater verloren – er sei von der islamistischen Al-Nusra-Front, dem damaligen syrischen Ableger von Al-Kaida, aus dem später die HTS hervorging, getötet worden, weil er sich nicht zum Islam bekannte. Genau wie seine Söhne heute. „Wir glauben gar nicht“, betont Rami M. „Die, die uns seit 13 Jahren bedrohen, kontrollieren jetzt unser Dorf“, sagt er. „Unser Dorf“ – das ist „Neirab“, ein von den Vereinten Nationen unterstütztes Camp für palästinensische Geflüchtete am Flughafen von Aleppo. Rami M. ist dort aufgewachsen, nach dem Tod des Vaters floh er, erst nach Ägypten und 2014 nach Deutschland.
Nach allem, was Rami M. über den nun gestürzten Gewalt-Machthaber mitbekommen hat, sagt er: „Ich hasse Assad.“ Aber ob das Leben unter der HTS-Miliz für nicht-muslimische Palästinenser nun moderater wird, daran zweifelt er eben auch. Sein Bruder, wie er selbst Vater dreier Kinder, sei schon in vier Städte Syriens gefahren, um unterzutauchen: „Aber sie sind überall.“ Kehrt jetzt Ruhe ein in Syrien? Hält al-Dschulani, bürgerlich Ahmed al-Scharaa, der sich nun als moderater Staatsmann gibt, dessen HTS aber von vielen Ländern als terroristische Organisation eingestuft wird, Wort? Rami M. sagt: „Es gibt keine Garantien.“
Ein Kurde mit gemischten Gefühlen
„Syrien ist frei“, schrieb Nidal A. nach Assads Sturz in seinen Whatsapp-Status. „Das ist eine gute Nachricht, er war ein Diktator“, sagt er auch ein paar Tage später. Die Status-Meldung hat der 53-Jährige, der mit seiner Frau und vier (teils erwachsenen) Kindern in Söcking wohnt, aber wieder entfernt. Denn: „Wir haben Angst vor radikalen Muslimen, die mit den Türken gegen Kurden kämpfen.“ Afrin, sein Heimatort in Nordsyrien, komme seit der Besetzung durch die Türkei 2018 nicht zur Ruhe. „Wir hören ständig Nachrichten.“
Nidal A. zog mit seiner Familie 2013 in die Türkei, weil er im Bürgerkrieg nicht kämpfen wollte – in seinem Fall damals gegen die Truppen von Assad. Und weil sich der Schneider im Nachbarland einen besseren Verdienst für die Versorgung seiner Kinder erhoffte. Als Kurde habe er sich aber unter Präsident Recep Tayyip Erdogan zunehmend bedroht gefühlt, weshalb die Familie 2016 nach Deutschland flüchtete. Nach Syrien zurückzugehen wird für ihn umso unrealistischer, je länger er am Starnberger See lebt. Seine Kinder haben mittlerweile Berufe ergriffen oder die Mittlere Reife abgeschlossen, die jüngeren sprechen kein Arabisch.
Nidal A. selbst kümmert sich seit 2017 um die Pflege des Golfplatzes auf Gut Rieden. Seine Fähigkeiten als Schneider bringt der 53-Jährige aber auch in die Gesellschaft ein: „Ich repariere Kleidung und Nähmaschinen im Starnberger Repair-Café“, erzählt er. Er wolle anderen helfen, nachdem er so gut aufgenommen wurde. Außerdem spiele er schon im Marionettentheater mit. Nidal A. ist kurz davor, den Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft zu stellen.
Meine news
Ein Deutscher sorgt sich um die alte Heimat
Abdu A. ist schon seit 2020 Deutscher. Der 25-jährige Chemie-Ingenieur, der in Bernried lebt, ging in Tutzing und Gauting zur Schule. Mit seiner Familie flüchtete er 2014 aus Damaskus. Sein Vater und auch er selbst hätten keinen Militärdienst ableisten wollen. Mit Blick auf die vergangenen Jahre sagt er: „Wir hatten die Hoffnung, dass sich in Syrien etwas zum Guten ändert, eigentlich schon aufgegeben – gerade als Assad die Macht wieder zurückerobert hatte.“
Wie viele Syrer war Abdu A. am vergangenen Samstag bis spät in die Nacht wach, telefonierte mit Bekannten und Verwandten in Syrien, hing an Live-Tickern. „Eine Zeit lang haben wir uns gefreut, aber jetzt kehren die Ängste zurück“, sagt der junge Mann. Kopfzerbrechen bereiten ihm vor allem die israelischen Panzer, die laut Medienberichten kurz vor Damaskus stehen. „Die größte Sorge ist nicht, ob Syrien das hinkriegt, sondern ob Israel das Land in Ruhe lässt“, sagt der 25-Jährige.
Abdu A. findet, dass die Bestrebungen der erfolgreichen Rebellen beim Aufbau eines neuen Staates in die richtige Richtung gehen. Ihm sei der Zusammenschluss der HTS-geführten Allianz lieber, „als wenn kleinere terroristische Organisationen die Situation ausnutzen“. Vor voreiligen Schlüssen, etwa zur Rückkehr von Syrern aus Deutschland, warnt Abdu A. „Die Lage ist noch sehr unklar.“