Tom Pirle war ein außergewöhnlicher Fakir. Sein Spezialgebiet: sich lebendig begraben lassen. An diese Obsession hielt er bis zum Lebensende fest.
Freising/Ottobrunn – Über 1000 Mal habe er sich nach eigenen Auskünften lebendig begraben lassen, in den unterschiedlichsten Särgen und bis zu zwölf Stunden lang. Während es nach dem Zweiten Weltkrieg um den „originellsten Selbstmörder der Welt“ deutlich ruhiger wurde, ließ ihn der Gedanke, es doch noch einmal zu probieren, eigentlich bis zum Lebensende nicht mehr los. Was die wenigsten Leser allerdings wissen dürften: Pirle, mit bürgerlichen Namen Franz Schmidbauer, wurde 1892 in Freising geboren – und wollte sich dort im hohen Alter auch nochmal während des Volksfestes lebendig eingraben lassen. Ob es wirklich noch dazu kam, ist bis heute unklar. Ausgraben konnte das FT hingegen ganz was anderes, nämlich Pirles Nachlass – und zwar aufgrund einer FT-Reportage im Sommer. Eigentlich schien die Sachlage klar: Außer einer Erwähnung in einem Buch über die Postkartensammlung von Karl Valentin und wenigen Zeitungsausschnitten im Stadtarchiv München wird das Tagblatt über Pirle wohl nichts mehr finden können – jenen Freisinger, von dem es hieß, er ließe sich einst liebend gern lebendig begraben.
Eine gewaltige Überraschung
Nachdem allerdings in der FT-Volksfestausgabe 2023 ein Bericht über Pirle erschienen war, kam es zu einer gewaltigen Überraschung. Bei der Heimatzeitung meldete sich nämlich Pirles Enkeltochter Erika Graue, die seit dem Tod des Fakirs ein doch recht umfangreiches Archiv über den bayerischen Ausnahmekünstler hatte aufbauen können – ein Archiv, das sie vor einigen Monaten nun erstmalig für einen Journalisten öffnete. Was sich darin fand: Überraschungen, Kuriositäten und der Blick auf einen Menschen, der ähnlich wie die amerikanische Entfesselungs-Ikone Harry Houdini den Tod überlisten wollte – und der es scheinbar, ganz im Gegensatz zu diesem, sogar schaffte. Was sich aber auch zeigte: Der Fakir aus Freising verstand es hervorragend, die Legende um seine Person immer wieder für neue Generationen aufzufrischen, vor allem durch eine regelmäßige Präsenz in der Münchner Tagespresse. So ist der Sammelordner von Erika Graue voll mit Reportagen über ihren Großvater – meist stilecht bebildert mit Pirle vor oder sogar im Sarg, auf dem Friedhof oder in seinem Fakir-Outfit. Aber auch noch etwas anderes wurde bei der Durchsicht des Archives deutlich: Pirle wollte es im vorgerückten Alter dann noch einmal wissen und suchte als 78-Jähriger nicht nur einen Friedhof zum „Training“ auf, sondern wollte sich auch einen neuen Sarg zulegen – schlichtweg, weil er „zu dick“ geworden war.
Das Geheimnis des Kunststücks
Die Rückblende, über das, was bekannt ist: Pirle wurde im Ersten Weltkrieg, also beinahe zeitgleich mit Houdinis gescheiterten Versuch, sich lebendig begraben zu lassen, verschüttet – für ihn scheinbar ein Erlebnis, das ihn zeitlebens beschäftigte. Ab 1926 verarbeitete er dieses Trauma durch die Idee, sich etwa auf Jahrmärkten, unter anderem auf dem Oktoberfest, lebendig begraben zu lassen. Genaue journalistische Schilderungen über den Hergang des Spektakels gibt es allerdings nicht, oder anders gesagt: Das meiste, was bekannt ist, erfährt der Leser ausschließlich durch Äußerungen des Fakirs und seinen Publikationen. Auf einem Flugblatt aus dem Jahr 1953 erklärt Pirle, dass er sich zudem in eine „luftdichte Tonne“ einschließen lassen könne, die dann eine Stunde lang im Wasser versenkt werde – außerdem sei er dafür bekannt, dass er eine Stunde am Galgen überlebe. Wie er das schaffen konnte, erklärte der Künstler mit einer richtigen Atemtechnik, über die er sogar ein kleines Büchlein veröffentlichte. „Das habe ich mit neun, zehn Jahren im Valentin-Museum verkauft“, erinnerte sich Erika Graue. Daneben, sozusagen um Schaulustige ins Museum zu locken, sei ihr Opa in seinem Sarg gelegen – wohl Ende der 1950er Jahre.
Die Rolle des Fakirs hat ihn nie losgelassen
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Völlig klar ist eines: Pirles größte Zeit war wohl zwischen den beiden Weltkriegen, danach verliert sich im Grunde seiner Spur als Auferstehender von den Toten. Womit er danach sein Geld verdiente, erklärte Erika Graue, die auch noch andere Flugblätter als die des „originellsten Selbstmörder der Welt“ aufgehoben hat – nämlich jene, auf denen Pirle seine Dienste als „Entrümpler“ für Wohnungsauflösungen anbot.
Und trotzdem: Ganz losgelassen hat ihn die Rolle als Fakir nie. Das zeigt sich auch und vor allem im vorgerückten Alter Pirles, als er von den örtlichen Printmedien möglicherweise neu entdeckt wurde. So titelte kurz um 1972 eine Münchner Tageszeitung: „Mit 80 hat er genug vom täglichen Selbstmord!“ Nur wenige Jahre zuvor allerdings, nämlich zum 77. Geburtstag, wünschte er sich via einer Schlagzeile folgendes: „Ich möchte nochmal begraben werden!“
Die Herausforderung per Luftpost
Ein Jahr später verbreitete sich hingegen eine ganz andere Nachricht wie ein Lauffeuer. Pirle hatte nämlich um 1970 herum die Nase voll von einem „irischen Stümper“ und Konkurrenten namens Tim Hayes, der wohl mit einer Sauerstoffflasche in den Sarg stieg – und der für Pirle deshalb nur ein „Sauerstoffschnaufer“ war. Was darauf folgte: Pirle forderte Hayes via Luftpostbrief zum Duell heraus – sozusagen zur gleichzeitigen Show-Beerdigung. Dazu kam es aber scheinbar nicht, jedenfalls konnte diesbezüglich nichts recherchiert werden.
Der letzte Wunsch bleibt unerfüllt
Ein Wunsch, den sich Franz Schmidbauer alias Tom Pirle in seinen letzten Interviews äußerte, blieb wohl eher auch unerfüllt: Er wollte zum Ende seiner Karriere 1972 auf dem Freisinger Volksfest noch einmal von den Toten auferstehen. Fünf Jahre später verstarb Pirle am 13. Juli um fünf Uhr morgens im Krankenhaus München-Neuperlach.