Eine Analyse von Ulrich Reitz - Asyl-Streit im Bundestag – plötzlich taucht ein ganz neues Kanzler-Szenario auf

Es ist eine Szene voller Symbolik. Eine, die weit über diesen Moment hinausweist: Katrin Göring-Eckardt hat als Spitzengrüne den Satz gesagt, Migration spiele im Leben der Menschen keine Rolle. Dafür erntete sie einen Shitstorm. 

Nun ist es die Staatsfrau Göring-Eckardt, die als Bundestagsvizepräsidentin das Abstimmungsergebnis verkündet, das, wie immer man es bewerten will, eine Zäsur darstellt: Erstmals ist ein Antrag mit den Stimmen der AfD durch den Bundestag gegangen. 

Asyldebatte im Bundestag: In der Union klatscht niemand Beifall

In der AfD applaudieren alle, ausnahmslos. Sie lachen, sie klopfen sich auf die Schultern, die Freude ist groß. In der Union klatscht niemand Beifall. Kurz darauf sagt Friedrich Merz, er „bedauere“ das Ergebnis. Was Merz „bedauert“ ist, dass er sich mit seinen fünf Asylpunkten durchgesetzt hat.

Und plötzlich ist die Euphorie in der Union über diesen Moment des Wochenendes, als ihr Kanzlerkandidat Union „pur“ verkündete, ergo, sich nicht mehr abhängig zu machen von der AfD – es war wie eine Art Befreiungsschlag – wie weggeblasen. Plötzlich ist da ein schlechtes Gewissen. Aber: 

Ein Erfolg, der erkennbar mit einem schlechten Gewissen einhergeht, ist keiner. 

Als Merz noch am Rednerpult steht, kann man sehen und hören, wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil mit empörter Miene dem Kanzlerkandidaten zuruft, er solle bloß nicht glauben, dass die SPD jetzt noch mit ihm zusammenarbeiten werde. Was passiert hier gerade? 

Hat sich die Möglichkeit auf eine Groko damit erledigt?

Ist das etwa eine vorweggenommene Absage der SPD an eine Regierungskoalition mit der Union unter einem Bundeskanzler Friedrich Merz? Mit anderen Worten: Nachdem der CSU-Vorsitzende Markus Söder Schwarz-Grün ausschließt, ist nun die SPD auf dem Weg, Schwarz-Rot auszuschließen? Und – was passiert dann? 

Muss es dann wieder der Bundespräsident richten? Wie schon einmal, als die SPD partout nicht in die letzte Große Koalition mit der Union eintreten wollte, und Frank-Walter Steinmeier „seine“ Genossen ins Gebet nahm, woraufhin die – wider Willen – mit Merkel koalierten. 

Plötzlich scheint ein Szenario möglich, mit dem vor der Debatte niemand gerechnet hatte: Friedrich Merz gewinnt als Kanzlerkandidat die Bundestagswahl, aber hinterher hat die Union keinen Koalitionspartner.

Grüne und SPD nehmen ihm diesen Riss in der Brandmauer derart übel, dass sie mit ihm als Regierungspartner nichts mehr zu tun haben wollen. Oder können – denn: Jeder Koalitionsvertrag muss einen roten oder grünen Parteitag überstehen.

AfD wird sagen: Seht her, auch wir haben Macht

Ob es am Ende wirklich so kommt? Niemand weiß das. Aber – es ist ein Drehbuch, das in den Wahlkampf passt.

Der AfD, die jetzt zum ersten Mal sagen wird: Seht her, auch wir haben Macht. Auch über die CDU und ihren Kanzlerkandidaten, der mit „schlotternden Knien“ (Bernd Baumann) dasteht. Und „von uns abschreibt“ – ein „Raubkopierer“ (Timo Chrupalla).

Der SPD und den Grünen, die sich jetzt allenfalls noch in zweiter Linie rechtfertigen müssen dafür, keine Asylwende zustande zu bringen. Was sich die Mehrheit der Bevölkerung wünscht. 

Ab jetzt wird dieser Satz von Olaf Scholz zum Dauerbrenner werden: Viele Bürger hätten darauf vertraut, wenn Merz sage, nicht mit der AfD, „aber was sind diese Worte jetzt noch wert?“ 

So argumentiert Scholz, so argumentiert der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, und so argumentiert Klingbeil: „Wer in diesem Land soll ihnen künftig eigentlich noch glauben, wenn Sie sich hart von der AfD abgrenzen?“ Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Das ist eine Volksweisheit. 

Merz hat ausgerechnet an diesem Tag nicht seine beste Form erwischt. Einen Fehler setzt er gleich an den Anfang seiner Bundestagsrede, als er sich an Alexander Gauland von der AfD wendet, dabei auf die bewegende Feierstunde zum Holocaust-Gedenktag verweisend. 

Das sei eine „Fliegenschiss“-Debatte gewesen – es ist ironisch gemeint, schwer zu verstehen und auch noch: falsch zitiert: „Vogelschiss“ – so hatte Gauland die zwölf Nazi-Jahre einst in revisionistischer Absicht relativiert.

Was genau Merz mit seinem Gewissen „einfach nicht vereinbaren kann“? 

Später in seiner Rede sagt Merz, ja, es könne sein, dass es an diesem Freitag bei der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz, das nur mit den Stimmen der AfD tatsächlich zu verabschieden ist, „Bilder“ gebe, die „unerträglich“ sein würden.

Merz macht seinen Weg – Union pur ohne Rücksicht auf die AfD in der Migrationsfrage, zu einer Gewissensentscheidung. Damit greift er ins oberste Regal. Was genau Merz mit seinem Gewissen „einfach nicht vereinbaren kann“? 

Dass angeblich „formale Absprachen mit Ihnen“ dazu führten, dass „wir hier im Bundestag“ nur noch Vorlagen zur Abstimmung stellen, „die vorher ihre Zustimmung gefunden haben“. Es wirkt wie von hinten durch die Brust ins Auge. 

Später kriegt es Merz dann besser hin: „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen.“

Das ist exakt, worum es geht. Besser, cooler jedenfalls, bringt es Christian Lindner an diesem Tag rüber: „Das Problem ist nicht, dass die AfD zustimmt, sondern dass SPD und Grüne es nicht tun.“ Mit SPD und Grünen werde es keine grundsätzliche Änderung an der erkennbar nicht funktionierenden Asylpraxis geben, das sei jetzt klar. Das ist es auch für die Wähler, die aber von SPD und Grünen auf ein anderes Gleis gelockt werden. 

Robert Habeck bringt einen Gedanken

Robert Habeck bringt einen Gedanken, der von jetzt an von ihm in jeder Talkshow zu hören sein wird und in jedem Video von ihm aus der Küche: Es gebe nun „die Gefahr, dass Mehrheit wird, was Mehrheit im Volk ist“. Es ist ein vergiftetes Bild. 

Gemeint ist: Eine Bundestagswahl bringt, Stand jetzt, eine Mehrheit von Union und AfD. Und wenn Merz‘ Motiv, die Stimmen der AfD in der Asylfrage in Kauf zu nehmen, darin besteht, dass die Mehrheit der Bevölkerung für eine Asylwende ist, warum sollte der CDU-Chef dann nicht auch mit der AfD koalieren, wenn die Mehrheit der Bevölkerung so wählt?

Es ist ein bestechender Gedanke – auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick erreicht er fast die Qualität einer Verschwörungstheorie, denn: Es gibt keine direkte Übersetzung des Volkswillens in eine Regierung. Das sieht das deutsche Regierungssystem nicht vor. 

Und gleichwohl: dies in einer Fernseh-Talkshow, wo es schnell und auch hitzig zugehen kann, souverän und in ein, zwei Sätzen, als Böswilligkeit zu widerlegen, dürfte keine Kleinigkeit werden. 

Ebenso wie einen anderen Gedanken zu kontern, den Habeck sich überlegt hat. Merz „folgt einer Logik, die Recht brechen will, um Recht zu verändern“. Auch das ist eine bestechende Formulierung, aber sie ist eben ein rhetorischer Trick, denn: 

Merz will nicht (Europa)recht brechen, sondern die Praxis beenden, dass über Jahre hinweg gegen das Asylgrundrecht verstoßen wurde. Nach dem Asylrecht, so Unionsgeschäftsführer Thorsten Frei, könne kein Migrant, der von Österreich aus über die deutsche Grenze komme, hier mehr Asyl bekommen.

Habeck-Satz ist perfide

Der Habeck-Satz, Merz wolle das „Recht brechen, um Recht zu verändern“, ist perfide, er unterstellt im Kern den Willen zu einem Staatsstreich. 

Mich erinnert es an die (Un)rechtskonstruktion des juristischen Nazistaat-Rechtfertigers Carl Schmitt. Demnach sei Recht, was ein Führer als Recht setze. Dass Merz angeblich einen Schritt auf die Änderung Deutschlands in Richtung eines autoritären Staats gemacht hat, klang bei fast allen Rednern von SPD und Grünen durch. 

Man darf sich nichts vormachen – es handelt sich um einen Vorwurf, der abstrus ist, und doch der Union ans Mark geht. Denn die versteht sich als „Staatspartei“. Gerade darin besteht der konservative Teil ihrer Identität. 

Es ist kein Zufall, dass Scholz und Co. Konrad Adenauer und Helmut Kohl ins Feld führten – die Ikonen der Union. Inhaltlich ist das zwar falsch, aber der Vorwurf, die Union verrate ihr Erbe – an die Macht, an die AfD – wirkt doch schwer. 

Tag zwei geht an die Parteien links der Mitte

Falsch ist er, weil es bei Adenauer zwar hunderttausende von Vertriebenen gab, aber so gut wie keine Asylbewerber. Und weil Kohl vor 30 Jahren – mit Hilfe der SPD – das Asylgrundrecht schon einmal änderte. Aber – was wird hängen bleiben von dem Vorwurf, Merz verrate schnöde das Erbe der Vorväter? 

Jedenfalls: An diesem Mittwoch hat der Wahlkampf eine neue Richtung genommen, mit einem neuen Thema. Die Karten werden neu gemischt. Ende offen. 

An diesem Freitag, wenn zum ersten Mal mit dieser neuen Mehrheit nicht nur über einen Antrag, sondern über ein richtiges Gesetz abgestimmt wird, geht es in die nächste Runde. 

Unterm Strich: Tag eins der Schlacht ging an Merz. Tag zwei geht an die Parteien links der Mitte.

Es geht, wie noch stets in der Politik, am Ende um Kommunikation. Also: Nicht darum, wer recht hat. Sondern, wer recht bekommt.