Eine Drohne fliegt über das Feld und zeigt auf dem Smartphone ein Luftbild des Sojabohnen-Ackers. Eine App teilt dem Ausleger am Traktor mit, an welchen Stellen er das neue Saatgut aussäen soll und in welcher Menge. Der dazugehörige Algorithmus speist sich aus Wetterdaten, Pflanzenwachstumsmodellen und historischen Erntewerten. Ein sogenannter „Spray Timer“ berechnet wiederum, wann der optimale Spritz-Zeitpunkt für neue Pflanzenschutzmittel ist.
Xarvio heißt das Programm, mit dem brasilianische Landwirte längst nichts mehr dem Zufall überlassen. Mit Apps, AI und Algorithmen versuchen Bauern in Brasilien schon seit Jahren, ihre Ernte zu optimieren. In Sachen Agrartechnik ist der Gastgeber der diesjährigen Weltklimakonferenz so aufgeschlossen wie kaum ein anderer Staat.
Deutsche Technik auf dem Acker
Nach einem Bericht der Lobbyorganisation Croplife sei die sogenannte „Precision Farming“-Branche in Brasilien binnen drei Jahren um 21 Prozent gewachsen, eine weltweit unerreichte Geschwindigkeit. In einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey aus dem Jahr 2024 gaben 50 Prozent der befragten brasilianischen Landwirte an, auf digitale Methoden zu setzen, in Europa sind es nur 25 Prozent.
Die Besonderheit: Viele der technischen Lösungen, mit denen die brasilianischen Bauern hantieren, stammen aus Deutschland. Xarvio ist ein Produkt des Ludwigshafener Chemiekonzerns BASF, am „Spray Timer“ sind noch die schwäbischen Technik-Tüftler von Bosch beteiligt. Das bayerische Agrarunternehmen Horsch verkauft die High-Tech-Landmaschinen, die die Anweisungen der Algorithmen umsetzen sollen.
In diesem Jahr kommen die Staaten bei der UN-Klimakonferenz in Belém zusammen, um über den weltweiten Kampf gegen die Klimakrise zu diskutieren.
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„Innovationskraft meilenweit voraus“
Ist Brasilien – auch dank deutscher Unternehmen – in Sachen Landwirtschaft mittlerweile technisch weiter als Deutschland? „Ja, absolut“, sagt Matthias Berninger, Cheflobbyist bei Bayer. Auch der Leverkusener Agrar- und Chemiekonzern mischt in Brasilien mit: Die Bayer-Plattform ProCarbono etwa soll Landwirten mit Hilfe von KI dabei helfen, die Effizienz ihrer Böden zu erhöhen – genau wie ihre Speicherfertigkeit für CO2. Die Plattform Climate Field View wiederum liefert Informationen zu Bodenqualität, Schädlingsbefall und Feuchtigkeit.
„Sie werden nicht über Nacht einer der größten Agrarexporteure, wenn Sie rückwärtsgewandt denken“, sagt Berninger zu FOCUS online Earth. „Es gibt, wie überall, auch in Brasilien Probleme. Die will auch gar nicht kleinreden. Aber die Innovationskraft hier ist meilenweit dem voraus, was in Europa möglich ist.”
Ende des Welthungers
Das hat Folgen für den Welthunger und das Klima. Bis 2034 könnte Unterernährung „weltweit eliminiert werden“, heißt es im aktuellen Jahresbericht der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO und der Wirtschaftsorganisation OECD. Die CO2-Emissionen des Sektors könnten derweil um sieben Prozent sinken.
Ein Schlüssel-Akteuren in beiden Fällen: Brasilien. Mehr als 1,5 Milliarden Menschen auf der Welt werden Schätzungen zufolge durch brasilianische Produkte ernährt. Und die FAO denkt, dass es noch mehr werden: „Die brasilianischen Exporte wichtiger Agrargüter dürften im kommenden Jahrzehnt deutlich anwachsen“, heißt es. Märkte wie Asien sollen dafür an Bedeutung verlieren.
Tatsächlich ist die Entwicklung der brasilianischen Landwirtschaft seit der Jahrtausendwende eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Nach Angaben des brasilianischen Landwirtschaftsministeriums ist die Getreideproduktion des Landes binnen 20 Jahren um 400 Prozent gestiegen, beim Anbau von Soja, Mais und Zuckerrohr ist Brasilien weltweit führend. FAO-Daten zeigen, dass Brasilien mittlerweile der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt ist, hinter den USA.
Silicon Valley für Bauern
Es hat Gründe, dass ausgerechnet Brasilien zum Zentrum der Agrartechnik geworden ist. Die landwirtschaftlichen Betriebe des Landes sind im Schnitt sehr viel größer als in Deutschland, mit einer Größe von teilweise mehr als 100.000 Hektar. Dadurch verfügen die Betriebe über mehr Kapital, kleine Einsparungen etwa bei Pflanzenschutzmittel summieren sich schneller, die Amortisationszeit für Investitionen sinkt.
Die größere klimatische Unsicherheit mit Starkniederschlägen, Trockenperioden und Schädlings-Invasionen zwingen brasilianische Landwirte außerdem mehr zur Innovation. Und: Dank des tropischen Klimas können brasilianische Bauern bis zu drei Ernten im Jahr einfahren, was ihnen eine bessere Datenlage und mehr Gelegenheiten zum Experimentieren verschafft.
Kein Wunder also, dass in Brasilien eine lebendige „Agritech“-Szene entstanden ist. Universitäten bringen reihenweise neue Landwirtschafts-Startups hervor, in der Stadt Piracicaba im Bundesstaat Sao Paulo ist sogar das brasilianische Äquivalent zum US-amerikanischen Silicon Valley entstanden – nur eben mit Fokus auf Landwirtschaft.
Ohne Regenwald kein Regen
In der Technik liege auch eine Klima-Chance, sagt Bayer-Mann Berninger: Denn Brasilien hat die Welt jahrzehntelang auf Kosten des Klimaschutzes und der eigenen Natur ernährt. Dem brasilianischen Umwelt-Netzwerk RAISG zufolge hat das Land seit Beginn des Jahrtausends mehr als 50 Millionen Hektar Wald verloren, das entspricht neun Prozent der Regenwald-Fläche. Viehzucht und Sojaanbau sind zentrale Treiber der Abholzung, illegale Farmen und Landbesetzungen verschärfen das Problem.
Große CO2-Quellen wie die Viehzucht ersetzen also schrittweise die CO2-Senke Regenwald. Auch den brasilianischen Landwirten sei klar, dass diese Rechnung nicht mehr lange gutgehen kann, sagt Berninger. „Unsere Kunden verstehen natürlich, dass bei einem Verschwinden des Regenwalds auch der Regen verschwindet.”
„Der Wald kommt nicht mehr zurück“
Gleichzeitig soll das südamerikanische Land aber immer mehr Menschen ernähren, siehe die Einschätzung der FAO. Was also tun? Mit Technik und Innovation lässt sich dieses Problem lösen, sagt Berninger: „Wir sind inzwischen in der Lage, mit unseren Technologien auf der bestehenden landwirtschaftlichen Fläche den Überschuss zu produzieren, den wir brauchen – auch wenn wir noch weiteres Wachstum einrechnen.“ Dazu müsse die Landwirtschaft zwar noch regenerativer werden, damit das Land nicht ausgelaugt werde. „Aber wir haben tatsächlich die historische Chance, mit weniger Land eine große Effizienzsteigerung zu erzielen.”
Nicht alle teilen diesen Optimismus. Eine technisch hochgezüchtete Landwirtschaft sei auch eine Landwirtschaft, in der multinationale Konzerne über große Macht verfügen, warnt die portugiesischsprachige Dependance der Heinrich-Böll-Stiftung in einem Beitrag. Plattformen wie Xarvio oder Climate Field View sammeln riesige Mengen Daten, Kleinbauern sind von der teuren Technologie oft ausgeschlossen.
Dennoch: Ist die Sojabohnen-App wichtiger, als wir denken? Zumindest Berninger hält Brasilien für eines der wichtigsten Länder in Sachen Klimaschutz, noch vor den USA. „Wenn Brasilien nicht Kurs hält beim Klimaschutz, können wir viele Dinge nicht erreichen“, sagt Berninger. „Die USA machen jetzt vielleicht langsamer beim Thema Erneuerbare Energien, aber dieser Kurs ist umkehrbar.“ Der Wald hingegen, sagt Berninger, „der Wald kommt nicht mehr zurück, wenn er einmal weg ist.”