Nicht bei Zurückweisungen: Die wahre Migrationswende verbirgt sich anderswo

Friedrich Merz hatte sich als Kanzlerkandidat der Union weit vorgewagt und eine Migrationswende versprochen. Das erste Mittel der Wahl sollten Zurückweisungen aller illegal Einreisenden an den deutschen Grenzen sein. In welchem Umfang die mit der schwarz-roten Koalition kommen werden, ist aber auch nach der Präsentation des Koalitionsvertrags unklar. Zu unterschiedlich interpretieren Union und SPD die entscheidende Passage, zu viele rechtliche Fragen sind offen.

Zwar wären Zurückweisungen an den Grenzen eine Möglichkeit, um tatsächlich die Asylzahlen zu senken. Doch auch ohne sie könnte Merz als Kanzler eine Migrationswende vollziehen. Denn die schwarz-roten Verhandler haben abseits der viel diskutierten Zurückweisungen kleinere Punkte in den Vertrag geschrieben, die unter dem Radar der Öffentlichkeit bleiben, aber ziemlich wirkungsvoll sein könnten.

Migration im Koalitionsvertrag: Kleine Wörter mit riesiger Bedeutung

Es seien manchmal einzelne Wörter, die eine riesige Bedeutung hätten, heißt es von den künftigen Koalitionären. Gelänge es der künftigen Regierung daraus konkrete Politik zu machen – wofür allerdings in vielen Fällen noch Gespräche zum Beispiel mit Bundesländern und EU-Partnern nötig sind – könnte daraus tatsächlich eine Migrationswende werden. 

FOCUS online hat fünf Punkte zusammengetragen, die die Migrationspolitik nachhaltig verändern könnten.

1. Fluggesellschaften müssen Abschiebungen durchführen

Es ist eine simple Maßnahme mit potenziell großer Wirkung: „Flugunternehmen werden wir zur Beförderung bei Rückführungen verpflichten“, heißt es im Koalitionsvertrag. Dahinter steht ein kaum bekanntes Problem, das manchem Politiker aber sauer aufstößt.

Denn nicht für alle Abschiebungen werden eigene Flugzeuge gechartert. In vielen Fällen finden die Abschiebungen mit ganz normalen Fliegern statt – mit denen andere Passagiere zum Beispiel in den Urlaub fliegen. Manchmal wird das zum Problem, weil die abzuschiebenden Personen im Flugzeug laut werden oder sogar randalieren. Piloten können daher ihre Beförderung mit Verweis auf die Sicherheit ablehnen.

Sanktioniert wurde das bislang nicht – und so scheiterten viele Abschiebungen an den Fluggesellschaften. Damit soll nach dem Willen der schwarz-roten Koalition künftig Schluss sein. Die Bundesländer, zuständig für Abschiebungen, sehen das als guten Schritt. Marion Gentges (CDU), Ministerin für Justiz und Migration in Baden-Württemberg, sagte zu FOCUS online: „Es ist richtig, es nicht in die Macht von Fluggesellschaften zu stellen, ob abgelehnte Asylbewerber aus unserem Land abgeschoben werden.“

2. Verwaltungsgerichte für Asylrechtssachen schaffen

Viele Asylverfahren und damit verbundenen Gerichtsverfahren ziehen sich über Jahre hin. Dem will Schwarz-Rot Abhilfe schaffen, indem besondere Verwaltungsgerichte für Asylrechtssachen eingerichtet werden sollen. Damit sollen die Fälle künftig konzentriert und schnell abgearbeitet werden.

Das Problem haben manche Bundesländer schon länger erkannt und erste Schritte in diese Richtung unternommen. So hatte Baden-Württemberg im vergangenen Sommer an Verwaltungsgerichten spezielle Asylkammern mit neuen Stellen eingeführt, sie jeweils auf Kläger aus bestimmten sicheren Herkunftsstaaten spezialisiert und die Digitalisierung vorangetrieben. Das hat offenbar geholfen: „Mit diesem Dreiklang an Maßnahmen konnten wir die asylgerichtlichen Verfahrenslaufzeiten auf bundesweite Spitzenwerte senken“, resümiert Justizministerin Gentges.

Sie freut sich darüber, dass der Koalitionsvertrag das aufgreift: „Zentrale Asylgerichte gewährleisten in besonders hohem Maß eine einheitliche Rechtsprechung und stärken so die Rechtssicherheit. Zugleich entlasten sie die allgemeinen Verwaltungsgerichte, die dann wieder mehr Kapazitäten etwa für Baurechtsverfahren haben.“

3. Kein Rechtsbeistand für abgelehnte Asylbewerber

Große Bedeutung misst man in der Union auch dem Passus im Koalitionsvertrag bei, der die Abschaffung des verpflichtend beigestellten Rechtsbeistands vor der Durchsetzung einer Abschiebung vorsieht. Auf die Einführung hatten die Grünen in der Ampel-Koalition gedrungen, um Abschiebehäftlinge zu schützen.

In der Praxis kann das Abschiebungen aber erheblich behindern. Denn nachdem der Asylantrag abgelehnt wurde und Gerichtsverfahren abgeschlossen wurden, kann ein Anwalt erneut Akteneinsicht beantragen und den Sachverhalt noch einmal prüfen lassen. Das kann dazu führen, dass der zeitlich begrenzte Ausreisegewahrsam verstreicht und die abzuschiebende Person sich dem Zugriff des Staates entzieht.

Die Inhaftierung müssten Betroffene auch nach der Abschaffung des verpflichtenden Rechtsbeistands nicht klaglos hinnehmen. Es würde für sie weiter die Möglichkeit bestehen, sich selbst einen Anwalt zu nehmen. Kritiker bemängeln allerdings, dass es dafür die nötigen finanziellen Mittel und ein grundlegendes Verständnis des deutschen Rechtssystems brauche.

4. Das Verbindungselement soll weg 

Bei einem Punkt ist Deutschland zwar kein Vorreiter, kann mit der neuen Regierung in der EU aber seine Blockade aufgeben und so einen kleinen, aber wichtigen Punkt ändern: das sogenannte Verbindungselement. Bisher gilt nach der Rückführungsrichtlinie nämlich, dass EU-Staaten Flüchtlinge nur in Drittstaaten abschieben dürfen, wenn sie zu diesem Land eine Verbindung haben.

Nach der Abschaffung könnte es also möglich sein, zum Beispiel einen Afghanen, den man nicht in sein Heimatland abgeschoben bekommt, in ein anderes Land rückzuführen. Mit diesem Modell hat unter anderem Dänemark schon Erfahrungen gemacht. Mit deutscher Unterstützung könnten solche „Return Hubs“ oder Abschiebezentren bald für die ganze EU ermöglicht werden.

Im Koalitionsvertrag versteckt sich zusätzlich ein Wort, mit dem Deutschland sich in der EU für eine noch weitergehende Lösung einsetzen könnte. Das Verbindungselement soll nämlich nicht nur für Rückführungen, sondern auch „Verbringungen“ abgeschafft werden. 

Das würde ermöglichen, dass Flüchtlinge nicht wie bisher während des Asylverfahrens in Deutschland sind, sondern sie in einen Drittstaat gebracht werden, bis eine Entscheidung gefallen ist. Ein solches Modell strebt zum Beispiel Italien mit Albanien an. Sollte die EU mit deutscher Unterstützung dieses Modell aufgreifen, könnte das in den kommenden Jahren eine erhebliche Migrationswende bedeuten.

5. Weniger Bürokratie und mehr Befugnisse für die Polizei

Zur Bekämpfung von Kriminalität sieht der Koalitionsvertrag viele kleine Änderungen vor. Das soll auch dabei helfen, besonders schwere Fälle von Ausländerkriminalität zu verhindern und schneller aufzuklären – wie bei den zahlreichen Anschlägen vor der Bundestagswahl. Das soll unter anderem damit gelingen, dass die Sicherheitsbehörden unbürokratischer und digitaler arbeiten.

Bei der Polizei rennt Schwarz-Rot damit offene Türen ein. „Wir haben viel zu viel Bürokratie, fehlende Kommunikation und schlussendlich, wenn nötig, zu wenig Datenaustausch von anderen Behörden. Mit diesem Schritt kann das der Vergangenheit angehören“, hofft etwa Manuel Ostermann im Gespräch mit FOCUS online. Der erste stellvertretende Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft DPolG zeigt sich auch zufrieden damit, dass ein zeitgemäßes Bundespolizeigesetz kommen soll.

Der Polizei soll es auch helfen, dass die künftige Regierung „eine verhältnismäßige und europa- und verfassungsrechtskonforme dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen“ einführen will. In der Union ist man stolz darauf, in diesem Punkt eine Einigung erzielt zu haben, nachdem viele Vorgängerregierungen sich darüber zerstritten hatten. Auch Gewerkschafter Ostermann sieht in der Vorratsdatenspeicherung eine „deutliche Verbesserung im rechtsstaatlichen Kampf gegen zum Beispiel organisierte Kriminalität“.

Im besten Fall, so hoffen nun viele, könnte sich durch Staatsmodernisierung und Digitalisierung auch abseits von bestimmten Gesetzen schon einiges ändern bei der Bekämpfung von Ausländerkriminalität und beim Vollzug von Abschiebungen.