Experte erklärt: Diese Nachbarn sind Gefahr für Merz' gewagten Asyl-Deal
FOCUS online: Herr Bossong, noch gibt es keine endgültige Einigung von Union und SPD in der Migrationspolitik, aber der Kurs wird in den Koalitionsverhandlungen immer klarer. Ist die Dynamik von Schwarz-Rot bei diesem Thema so, wie Sie es zu Beginn der Gespräche erwartet haben?
Raphael Bossong: Es war absehbar, dass es bei der Stärkung der Sicherheitsbehörden und bei den Abschiebungen ohne großen Streit zu einer Einigung kommen würde. Trotz der Polarisierung im Wahlkampf waren immer Schnittmengen zwischen Union und SPD vorhanden. Es ist auch nicht ganz überraschend, wo jetzt die Knackpunkte sind: also bei den Asylverfahren in Drittstaaten, beim Staatsbürgerschafts- und Chancenaufenthaltsrecht und bei den Zurückweisungen.
Die SPD will diese Zurückweisungen nur mit Zustimmung der europäischen Partner, die Union im Zweifel auch im Alleingang. Wie sehr würde CDU-Chef Friedrich Merz mit einem solchen Alleingang ins politische Risiko gehen mit Blick auf EU-Partner?
Bossong: Es besteht auf jeden Fall ein Risiko. Es ist aus meiner Sicht aber zu begrüßen, dass die Union Abstand davon genommen hat, einen nationalen Notstand zu erklären, um zeitweise europäisches Recht außer Kraft zu setzen und nationales Recht voranzustellen. Das wäre ein deutlich höheres Risiko gewesen. Merz wollte damit einen Schockeffekt erzielen, die Folgen wären aber wahrscheinlich nicht kontrollierbar gewesen.
Merz' Zurückweisungen: Polen konfrontativ, mehr Zustimmung im Westen
Offenbar will Merz die SPD nun von Zurückweisungen überzeugen, indem er bereits jetzt im Hintergrund an der Zustimmung der Nachbarländer arbeitet. Wie realistisch ist es, dass Merz die Zusagen bekommt?
Bossong: Es ist schwer einzuschätzen, welche Signale die Staaten hinter den Kulissen an Merz senden. Er scheint sich aber vor allem über die konservative europäische Parteienfamilie EVP, deren Teil CDU und CSU sind, um Einigungen zu bemühen. Nehmen wir Polen: Die Regierung hat gerade erklärt, das Asylrecht auszusetzen, aber auch beim Dublin-System zeitweise nicht mehr mitzumachen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Merz bei Polen mit seinem Vorhaben auf Gegenliebe stoßen wird, weil die Politik dort noch konfrontativer unterwegs ist. Merz muss sich fragen, ob er da wirklich mitziehen oder die Polen sogar überbieten will mit ihrer restriktiven Migrationspolitik.
Wie sieht es bei anderen Nachbarländern aus?
Bossong: Es gibt kein einheitliches Bild, auch weil die Lage innenpolitisch in den Ländern sehr unterschiedlich ist. Österreich hat Deutschland bei Zurückweisungen schon mehrfach Absagen erteilt. Eine extrem rechte Regierung mit der FPÖ wurde dort gerade noch verhindert, die neue Regierung mit Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen steht aber unter Druck. Mit einseitigen Maßnahmen würde Deutschland sie weiter in die Enge drücken, was die FPÖ ausnutzen könnte. Und Österreich will schlichtweg nicht unsere Arbeit machen müssen an ihren Grenzen.
Und bei den westlichen Nachbarn?
Bossong: Die Niederlande und Dänemark könnten eher geneigt sein, zuzustimmen. Luxemburg hingegen hat sich schon jetzt formell beschwert wegen der Grenzkontrollen. Es gäbe also wahrscheinlich mit einigen EU-Partnern Reibung, wenn Merz zum Alleingang ansetzen würde. Ob sich das lohnt, ist eine politische Abwägung, die die neue Regierung treffen muss.
„Ein Merz-Modell für alle wird es nicht geben können“
Der damalige CSU-Innenminister Horst Seehofer hatte ebenfalls versucht, Migrationsabkommen mit europäischen Partnern zu schließen. Nachhaltig erfolgreich war er damit nicht. Was ist heute anders als damals?
Bossong: Seehofer hat verschiedene Dinge versucht, die nicht alle mit den derzeitigen Ideen zu vergleichen sind. Allgemein kann man aber sagen, dass heute ein anderer Wind weht in Europa. Heute ist es sicher mehr Konsens, dass gegen irreguläre Migration restriktiver vorgegangen werden muss. In diesem Klima kann man natürlich darauf setzen, dass andere Staaten eher kompromissbereit sind. Trotzdem wird es nicht leicht, sie zu überzeugen, plötzlich deutsche Interessen zu erfüllen. Zudem hat, wie bereits gesagt, jedes Land seine eigene Perspektive auf das Thema. Ein Modell, das Merz mit allen vereinbaren kann, wird es nicht geben können.
Wie könnten solche Modelle aussehen? Würde es helfen, zum Beispiel ein bestimmtes Kontingent zu vereinbaren, wie viele Menschen zurückgewiesen werden dürfen oder an welchen Grenzabschnitten?
Bossong: Ich halte es in der Praxis für unrealistisch, solche Kontingente zu vereinbaren. Solche Ideen sind dann vielleicht eher Verhandlungsmasse. Bei Grenzabschnitten könnte es eher eine Verständigung geben. Es wird auch darum gehen, wie weit vorgelagert Kontrollen stattfinden. Mit der Schweiz ist zum Beispiel verabredet, dass die Bundespolizei auf deren Gebiet tätig werden darf. Vielleicht lassen sich auch andere Staaten darauf ein. Eine weitere Frage ist, was „umgehende Zurückweisungen“ bedeuten. Werden die Asylsuchenden wirklich postwendend zurückgeschickt, oder macht man eher ein beschleunigtes Dublin-Verfahren, wie es auch die Ampel-Regierung schon beschlossen hat.

Welche europäischen Folgen hätte es denn, wenn Deutschland konsequent zurückweist?
Bossong: Das lässt sich schwer prognostizieren. Die Staaten würden weniger als bei einer Notstandserklärung, aber immer noch deutlich unter Druck gesetzt werden. Ob es dann überall zu Kettenzurückweisungen kommt, also ein Staat nach dem anderen das Modell übernimmt, ist offen. Österreich würde das dann wahrscheinlich machen. Dass Frankreich das gegen seine Nachbarstaaten Spanien und Italien durchgesetzt bekäme, wäre schon unwahrscheinlicher. Merz kann versuchen, diese Dynamik zu entfalten. Was dann geschieht, ist aber schwer zu beeinflussen.
Zurückweisungen in rechtlicher Grauzone
Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Einigung von Union und SPD letztlich doch noch von Gerichten einkassiert wird?
Bossong: Der Notstand wäre nach meiner Ansage rechtlich nicht vertretbar gewesen, es gibt aber auch Experten, die das anders sehen. Bei der jetzt geplanten Lösung sind die rechtlichen Probleme etwas geringer, man rutscht weiter in den Graubereich. Ich glaube, Zurückweisungen im Alleingang würden längerfristig trotzdem keinen Bestand haben. Allerdings würde es bis zu einem Urteil viel Zeit vergehen und nicht jedes Urteil wird sofort in aller Konsequenz umgesetzt. Immer noch anfechtbar, aber besser sähe es aus, wenn Deutschland mit den Nachbarsaaten Vereinbarungen trifft.
Der Asylrechtler Daniel Thym schlägt vor, Zurückweisung zum Beispiel nur bei jungen Männern vorzunehmen, nicht bei Kindern, Frauen und Alten. Dann wäre man rechtlich weniger angreifbar. Halten Sie das für sinnvoll?
Bossong: Indem man vulnerable Personengruppen ausnimmt, könnte man natürlich etwas Wind aus den Segeln nehmen. Allerdings müsste man klar festlegen, wer in diese Gruppe fällt und wer nicht. Wenn die Bundespolizei nach Gefühl manche Personen zurückweist, aber andere nicht, könnte das Vorgehen diskriminierend sein. Ein sauberes Verfahren führt aber wahrscheinlich dazu, dass nicht unmittelbar zurückgewiesen werden kann – und dann fällt die Zuständigkeit für das Verfahren doch an Deutschland, was ja eben nicht gewünscht ist. Der Teufel steckt also im Detail.
Doppelte Kontinuität bei schwarz-roter Migrationspolitik
Nehmen wir an, Union und SPD gehen die Kompromisse ein, die sich andeuten. Wäre das dann eine signifikante Verbesserung der Migrationspolitik?
Bossong: Es kommt natürlich auf den Standpunkt des Betrachters an. Man kann auf jeden Fall sagen, dass es eine doppelte Kontinuität gäbe: Zum einen wird die Migrationspolitik immer weiter verschärft. Zum anderen sind sie kein Bruch mit dem aktuellen System und führen die bisherige Politik in vielen Punkten fort.
Worauf kommt es jetzt an in den weiteren Verhandlungen zur Migrationspolitik?
Bossong: Die angepeilten Verschärfungen müssen rechtssicher sein. Und sie müssen effektiv genug sein, um sie auch kommunizieren zu können. Das kann auch mit kleinem Besteck und ohne Brechstange gelingen. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass man relative Verbesserungen erreichen kann, aber ab Tag eins einer neuen Regierung nicht alles anders wird. Es wird Verbesserungen geben, aber es wird in der Migrationspolitik auch weiter unübersichtlich bleiben.