Streit über Sondierungsergebnis - Merz-Asylkurs hängt an einem Wort: Doch Experte offenbart ihm ein Grenz-Schlupfloch

Union und SPD haben noch nicht einmal offiziell Koalitionsverhandlungen aufgenommen und trotzdem ist der erste größere Streit in der Koalition in spe ausgebrochen. Die schwarz-rote Einigung auf einen neuen Kurs in der Migrationspolitik, die im Sondierungspapier festgehalten ist, lässt an entscheidender Stelle nämlich viel Interpretationsspielraum – den nun beide Seiten versuchen, für sich zu nutzen.

Konkret geht es um die Frage, inwieweit Deutschland künftig illegal Einreisende an der Grenze abweisen wird. Im Wahlkampf hatte Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz versprochen: „Es wird ein faktisches Einreiseverbot geben“, dieses gelte „ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch“. Mehr noch: Indem der CDU-Chef auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers verwies, deutete er an, dieses Vorgehen im Zweifel auch gegen mögliche Koalitionspartner durchsetzen zu wollen.

Hofft SPD auf Widerstand der Nachbarländer?

Entsprechend zufrieden zeigte sich Merz am Samstag bei der Vorstellung des Verhandlungsergebnisses, als er erklärte, es werde künftig Zurückweisungen geben. Allerdings ging er schnell über die Formulierung im Sondierungspapier hinweg. Demnach sollen Zurückweisungen nämlich „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“ vorgenommen werden.

Die SPD, die in Person von Lars Klingbeil noch wenige Tage zuvor die Zurückweisungen von Asylbewerbern kategorisch abgelehnt hat, interpretiert diesen Zusatz als Einschränkung. Das Kalkül der sozialdemokratischen Verhandler ist offenbar, dass Nachbarstaaten wie zum Beispiel Österreich nicht zustimmen werden – und damit die Zurückweisungen vom Tisch sind.

Dafür gibt es sogar ein historisches Vorbild: Im Sommer 2018 lagen die damalige CDU-Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Innenminister Horst Seehofer über Zurückweisungen im Streit. Schließlich sah die Einigung vor, dass Seehofer darüber mit Österreich darüber verhandeln darf. Doch mit dem Nachbarland kam kein substanzielles Abkommen zustande.

Spahn und Esken streiten sich über Sondierungsergebnis

Vielen in der Union, die sich einen härteren Migrationskurs wünschen, erinnern sich schmerzlich an diese Episode. Sie versuchen daher, die Formulierung im Sondierungspapier anders zu deuten. „Da steht nicht ‚zustimmen‘, sondern ‚in Abstimmung‘“, betont zum Beispiel Fraktionsvize Jens Spahn. Er will „nicht abhängig von der Zustimmung der anderen Länder“ sein. Das heißt: Wenn die Gespräche mit den Nachbarländern scheitern, soll es anders als 2018 dennoch zu Zurückweisungen kommen.

Das löst nun umgehend Widerspruch bei der SPD aus. Parteichefin Saskia Esken sagte im Deutschlandfunk, ein solches Vorgehen wäre „brandgefährlich“, weil es europäischen Vereinbarungen widerspräche. „Wir haben etwas anderes vereinbart, und dabei bleiben wir auch.“

Einen echten schwarz-roten Kompromiss in der Sache scheint es also noch nicht zu geben. Spahn ist zwar nicht Teil des CDU-Verhandlungsteams, aber auch Aussagen von Sondierungsteilnehmern wie Thorsten Frei gehen in eine ähnliche Richtung. In den jetzt anstehenden Koalitionsverhandlungen wird das Thema also weiter konkretisiert werden müssen.

Widersprüchliche Signale aus Österreich

Im Hinterkopf haben sollten die Politiker von Union und SPD auch die Signale, die es bereits jetzt aus dem Ausland gibt. Im Fall von Österreich sind diese allerdings uneindeutig. Auf der einen Seite hat das dortige Innenministerium mitgeteilt, „Einreiseverweigerungen seitens der deutschen Behörden nicht zu akzeptieren und über Wahrnehmungen unverzüglich Bericht zu erstatten“. Deutschland würde mit Zurückweisungen dann einen wichtigen Nachbarstaat brüskieren und einen Rechtsstreit riskieren. 

Auf der anderen Seite hat der österreichische Regierungschef Christian Stocker die Sondierungsergebnisse gelobt: „Es ist erfreulich, dass sich auch Deutschland dazu bekennt, konsequent gegen illegale Migration vorzugehen“, sagte der konservative Politiker der „Bild“. Stocker kündigt zudem an, selbst reagieren zu wollen, wenn Deutschlands Maßnahmen Auswirkungen auf Österreich hätten. 

Merz hängt an Gunst der Nachbarn – und setzt auf Domino-Effekt

Was das konkret bedeutet, sagt Stocker nicht. Gemeint ist aber wahrscheinlich ein Vorgehen, dass CDU-Chef Merz freuen dürfte. Der setzt Berichten zufolge nämlich auf einen Domino-Effekt: Wenn Deutschland zurückweist, würde sich dem Österreich anschließen, das wiederum auch zurückweisen würden. Dem würden dann Österreichs Nachbarn folgen – bis schließlich an der EU-Außengrenze die Grundsatzentscheidung fällt, ob ein Asylsuchender einreisen darf oder nicht.

Der Asylkurs eines möglichen Kanzlers Merz hängt also davon ab, ob andere EU-Staaten mitmachen und gegebenenfalls seinem Kurs folgen. Um ihre Gunst will er schon werben, bevor er zum Kanzler gewählt wird. In der vergangenen Woche war in Brüssel und tauschte sich am Rande eines EU-Gipfels mit konservativen Staats- und Regierungschefs aus. 

Konkret über das Thema Migration und Zurückweisungen will Merz mit den Nachbarn zwischen Ende der Koalitionsverhandlungen und Kanzlerwahl sprechen, wie die „Bild“ berichtet. Das Ziel: Zurückweisungen „ab Tag eins“ der Regierungszeit, wie der CDU-Chef das im Wahlkampf versprochen hatte. Wahrscheinlich ist aber, dass trotz aller Bemühungen die Zurückweisungen nicht sofort an allen Grenzen und für alle Migranten gelten werden – zu viel Gesprächsbedarf besteht noch.

Schwarz-rot bekennt sich zu „rechtsstaatlichen Maßnahmen“

Neben Bedenken bei SPD und EU-Partnern muss Merz sich auch um rechtliche Probleme kümmern. Denn Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze widerspricht EU-Recht, insbesondere der Dublin-III-Verordnung, die vorschreibt, dass zuerst geprüft werden muss, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist. 

Eine direkte und allgemeine Zurückweisung könnte deshalb illegal sein. Sollte ein Gericht so entscheiden, wäre die schwarz-rote Einigung dahin. Denn im Sondierungspapier steht eine weitere Einschränkung: nämlich, dass nur „rechtsstaatliche Maßnahmen“ ergriffen werden sollen.

Asylrechts-Experte Thym macht Merz einen Vorschlag

Der Asylrechts-Experte Daniel Thym nennt im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ einen möglichen Ausweg für Merz und seine mögliche Koalition: „Denkbar wäre etwa, dass Familien und Minderjährige aus humanitären Gründen weiter ins Land kommen, während junge Männer zwischen 18 und 40 Jahren zurückgewiesen werden. Das erhöht die Chance, dass die Gerichte mitspielen.“ Zudem rät Thym dazu, die Zurückweisungen zeitlich zu befristen. „Dauerhafte Zurückweisungen über viele Monate hinweg haben eine sehr geringe juristische Chance“, warnt der Experte. 

Sowohl die Einschränkung des Personenkreises als auch der Gültigkeit wäre allerdings ein Widerspruch zu Merz‘ Wahlkampfversprechen eines „faktischen Einreiseverbots“.