Dann sagt mir der Pro-Asyl-Chef, dass es nie eine Flüchtlingskrise gegeben hat

Dieser Tage jährt sich die Flüchtlingskrise 2015. Während Pro Asyl vom "Sommer der Solidarität" spricht, sehen das viele Menschen in unserem Land anders. Das zeigt sich auch in den Zustimmungswerten für die AfD, die kürzlich in Umfragen an der Union vorbeizog. 

Zeit für eine grundlegende Debatte mit dem Geschäftsführer von Pro Asyl, Karl Kopp. Zeit für "Nena und die andere Meinung". Kopp ist Sozialwissenschaftler und seit über 30 Jahren in der Bundesgeschäftsstelle der Menschenrechtsorganisation in Frankfurt am Main tätig. Ich greife zum Hörer und rufe ihn an.

Pro Asyl will Erfolgsgeschichten von Flüchtlingen zeigen

Nena Brockhaus: Herr Kopp, schön, dass ich Sie erreiche. Ich würde gerne mit Ihnen über die Flüchtlingskrise sprechen.

Karl Kopp: Guten Tag, Frau Brockhaus. Aktuell dokumentieren wir gerade die Erfolgsgeschichten von Flüchtlingen, die 2015 ankamen und es geschafft haben. Und wir würdigen die Zivilgesellschaft, die zu diesem Gelingen beigetragen hat. Das ist wichtig in einer Zeit, in der es vor allem um Abwehr, die Beendigung humanitärer Aufnahmeprogramme und die Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen geht.

"Grenzkontrollen absolut notwendig" – "Deutschland darf Recht nicht brechen"

Brockhaus: Es gibt glücklicherweise viele gelungene Geschichten von Flüchtlingen, die 2015 in unser Land kamen, aber es gibt eben auch viele negative Beispiele. Ich finde, wir müssen gleichwertig über beides sprechen und berichten. Lassen Sie uns aber zunächst über die drei Somalier sprechen, die Sie kürzlich erst mit Pro Asyl an der polnischen Grenze unterstützt haben. Sie haben in Interviews gesagt, dass die drei Somalier alles allein entschieden hätten. Für mich wirkt das nicht so. Es wirkt wie ein inszenierter Fall, um Stimmung gegen Dobrindts Grenzkontrollen zu machen.

Kopp: Es handelte sich um sehr junge Menschen mit einer harten Fluchtgeschichte. Sie humanitär und rechtlich zu unterstützen, ist genau die Aufgabe von Pro Asyl. Das Berliner Verwaltungsgericht hat entschieden, dass ihre Zurückweisung nach Polen rechtswidrig war – Deutschland muss sich an das europäische Zuständigkeitsverfahren halten.

Brockhaus: Die drei Somalier hielten sich bereits in Polen auf, einem sicheren Land. Für mich ist das klar eine politische Kampagne, und die drei Somalier wurden instrumentalisiert. Oder wie erklären Sie sich sonst die juristische Unterstützung? Ich halte die Grenzkontrollen für absolut notwendig. Wir können nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen.

Kopp: Geflüchtete zu ihrem Recht zu verhelfen, ist ein selbstverständlicher menschenrechtlicher Ansatz. Grenzkontrollen gab es schon unter Nancy Faeser. Neu ist jetzt, dass Asylsuchende zurückgewiesen werden. Das EU-Recht sieht ein geregeltes Verfahren vor, und dieses Recht darf Deutschland nicht weiter brechen.

Brockhaus: Ja, es gab schon unter Faeser Grenzkontrollen – und das aus gutem Grund: Sie helfen, irreguläre Einreisen und Schleuserkriminalität zu verhindern. Auch das EU-Recht erlaubt solche Kontrollen ausdrücklich, wenn die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Sicherheit und Rechtsstaat schließen sich nicht aus – sie brauchen einander.

Kopp: Nationale Alleingänge sind gefährlich, weil sie auch außenpolitischen Schaden anrichten. Wir treten für ein europäisches Schutzsystem ein, in dem alle Mitgliedstaaten menschenwürdige Aufnahmebedingungen einhalten. Wo EU-Recht gebrochen wird, muss sanktioniert werden – auch gegen Länder, die beachtliche EU-Gelder erhalten, aber unwürdige Bedingungen für Flüchtlinge schaffen.

Familiennachzug aussetzen? "Damit werden Schlepper reicher"

Brockhaus: Nicht nur die Grenzkontrollen missfallen Ihnen, sondern auch der ausgesetzte Familiennachzug. Der Deutsche Bundestag hat am 27. Juni 2025 ein Gesetz beschlossen, das den Familiennachzug für Personen mit subsidiärem Schutzstatus für zwei Jahre aussetzt. Warum sind Sie dagegen?

Kopp: Das Recht auf Familie ist ein Grundrecht. Geregelte Verfahren sind sicherer, planbarer und fördern Integration – und sie verhindern, dass Familienangehörige ihr Leben auf dem Mittelmeer riskieren. Damit werden nur Schlepper reicher gemacht.

Brockhaus: Das sehe ich anders. Dobrindt reduziert mit dem Gesetz die Anreize für irreguläre Migration, weil man eben nicht sofort seine Familie nachholen kann. Mit Ihren Standpunkten vertreten Sie vor allem Geflüchtete. Viele Deutsche haben aber Sorgen: Wohnungsnot, Kita-Plätze, Gewalt, und Statistiken belegen auch Probleme bei Straftaten. Die Tatverdächtigenrate ist bei Ausländern fast dreimal so hoch wie die bei Deutschen. Müssen Sie diese Bedenken nicht auch mit Pro Asyl ernst nehmen?

Kopp: Die Sorgen der Bevölkerung müssen ernst genommen werden – egal ob Deutsche oder Zugewanderte. Eklatante Mängel in der Infrastruktur und fehlende bezahlbare Wohnungen im Land müssen endlich angegangen werden. Genauso wie die umfassende Finanzierung der Kommunen bei der Flüchtlingsaufnahme. Wir verteidigen die offene, demokratische Gesellschaft; dazu gehören Frauenrechte und das sichere Leben aller Menschen. Demokratiefeinde – völkischer, aber auch islamistischer Extremismus – bedrohen genau dies.

Keine Migrationskrise, sondern eine "Krise der Menschenrechte"

Brockhaus: Die AfD hat die Union gerade in Umfragen überholt – vor allem wegen der Migration, die für viele Menschen in unserem Land schiefläuft. Die Flüchtlingskrise 2015 hat in diesem Sommer ihr zehnjähriges Jubiläum, weswegen wir beide ja auch miteinander debattieren. Wie würden Sie die Entwicklung seit 2015 nennen?

Kopp: Als Krise der Menschenrechte. Nach 2015 trugen wenige Länder die Hauptverantwortung bei der Aufnahme. Bei den ukrainischen Geflüchteten 2022 hat es deutlich besser funktioniert – das zeigt, dass Solidarität möglich ist.

Brockhaus: Das stimmt nicht. Auch 2022 haben vor allem Nachbar- und wirtschaftsstarke Länder wie Deutschland die Hauptlast getragen; eine wirklich gleichmäßige Verteilung blieb aus. Und schauen wir uns einmal an, wie wenige Ukrainer in Deutschland arbeiten: Im November 2024 haben nur rund 296.000 der 900.000 erwachsenen Geflüchteten aus der Ukraine gearbeitet. Das sieht beispielsweise in Polen ganz anders aus. Man mag es hart empfinden, aber die Wahrheit ist: Das Bürgergeld ist für zu viele einfach zu verlockend. Die großzügigen Aufnahmeregelungen, die Sie mit Pro Asyl fordern, kosten sehr viel Geld. Wie soll das finanziert werden?

Wie sollen die Forderungen von Pro Asyl finanziert werden?

Kopp: Mehr Investitionen in Krisenprävention statt Kürzungen, ernsthafte Fluchtursachenbekämpfung, schnelle Integration und gute Bildung zahlen sich aus, weil dies unsere gemeinsame Zukunft sichert. Arbeitsverbote müssen weg, damit Menschen schnell selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen.

Brockhaus: Da stimme ich beim Arbeitsmarktzugang absolut zu. Aber es gibt Ungleichgewichte: Manche arbeitende Familien können sich nicht einmal das Schwimmbad leisten, während Geflüchtete kostenlose Teilhabeangebote bekommen.

Kopp: Bildungs- und Teilhabeangebote für alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft. Nur so vermeiden wir weitere soziale Spaltungen.

Brockhaus: Das stimmt, aber wir leben nicht in einer Traumwelt, und die Bürger in unserem Land können nicht noch mehr Steuern zahlen. Wir sind nach manchen Erhebungen bereits Vize-Steuerweltmeister. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kopp! Nie war es wichtiger als in diesen Zeiten, miteinander zu debattieren!

Kopp: Bis bald, Frau Brockhaus.

Über die Kolumnistin

Nena Brockhaus, geboren 1992, ist Wirtschaftsjournalistin, Fernsehmoderatorin, politische Kommentatorin und fünffache SPIEGEL-Bestsellerautorin (UnfollowPretty HappyIch bin nicht grünAlte Weise MännerMehr Geld als Verstand). Ihr aktuelles Buch MGAV stieg auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Nach Stationen bei HandelsblattWirtschaftswoche und Bunte moderierte sie für BILD die tägliche Polit-Talkshow Viertel nach Acht. Seit 2024 kommentiert Brockhaus für WELT TV wöchentlich die deutsche Innenpolitik. Mit ihrer Kolumne „Nena und die andere Meinung“ für FOCUS online möchte sie zu einem differenzierten Meinungsbild in unserer Gesellschaft beitragen – gerne auch mit unpopulären Thesen und der Erweiterung des Sagbaren. 

Nun interessiert mich, was Sie denken, liebe Leserinnen und Leser: Sind Sie diese Woche Team Kopp oder Team Brockhaus? Wie blicken Sie auf die Migration in unserem Land?

Seien Sie sich gewiss: Ich lese immer all Ihre Kommentare, Mails und Nachrichten. Wenn Sie mögen, lesen wir uns nächste Woche wieder. Was ich mir wünsche: Debattieren Sie! Respektieren Sie nicht bloß die Meinung des anderen – zelebrieren Sie sie!

Ihre Nena Brockhaus