Mit "Wir schaffen das" hatte Merkel recht – aber wir sind noch nicht am Ziel

Vor genau zehn Jahren stand München im Zentrum einer der größten humanitären Herausforderungen der Nachkriegsgeschichte: Im Sommer 2015 erreichten Hunderttausende Geflüchtete die bayerische Landeshauptstadt, die meisten von ihnen kamen am Münchner Hauptbahnhof an. Als Oberbürgermeister hatte ich damals die Verantwortung, unmittelbar vor Ort zu sein, im täglichen Krisenstab die unterschiedlichsten Entscheidungen zu treffen und die Stadt in dieser Ausnahmesituation zu führen.

Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" war erst einmal der Versuch einer positiven Botschaft trotz großer, erwartbarer Herausforderungen. Und ein Ausdruck der damaligen Hoffnung, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen können und auch, dass Integration gelingen kann. 

Wir haben viel geschafft – aber Herausforderungen bleiben

Rückblickend stelle ich fest: Ja, wir haben – jedenfalls in München – vieles geschafft, aber inzwischen sind auch bei uns die Grenzen der Belastbarkeit der Bevölkerung und unserer Infrastruktur zu erkennen. Die Aufnahme und Integration der Menschen, die damals zu uns gekommen sind, war eine immense Herausforderung – und sie ist es bis heute

Dieter Reiter
Dieter Reiter (SPD) ist Oberbürgermeister von München. Michael Nagy/Presseamt Stadt München

Dieter Reiter ist SPD-Politiker und seit dem 1. Mai 2014 Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt München. In diesem Amt erlebt er den Flüchtlingssommer 2015, in dem innerhalb weniger Tage Zehntausende Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof ankamen.

Der Satz, den die Bundeskanzlerin damals sicherlich in guter Absicht gesagt hat, kam bei vielen Menschen nicht so an, wie sie das beabsichtigt hatte. 

Was wir seit 2015 geschafft haben

Im Sommer 2015 stand die Landeshauptstadt München vor der beispiellosen Herausforderung, über 65.000 geflüchtete Menschen innerhalb weniger Tage aufzunehmen. Rund 4500 unbegleitete Minderjährige wurden vom Stadtjugendamt bis Ende Oktober 2015 in Obhut genommen. Innerhalb weniger Tage wurden im Münchner Hauptbahnhof zentrale Erstaufnahmeeinrichtungen errichtet, um die Menschen menschenwürdig zu versorgen und weiterzuvermitteln. 

Die Hilfsbereitschaft der Münchnerinnen und Münchner war überwältigend: Tausende Ehrenamtliche engagierten sich in den ersten Wochen, um die Geflüchteten mit Lebensmitteln, Kleidung, Betreuung und Begleitung zur Seite zu stehen. Auch die Verwaltung stellte sich schnell um: Die Stadt richtete neue Beratungsstellen, Sprach- und Integrationskurse ein. 

Zahlreiche Erfolgsgeschichten zeigen, dass Integration funktionieren kann. Das Sozialprojekt "Bellevue de Monaco" hat beispielsweise mitten in München ein Haus für Geflüchtete geschaffen, mit Gastronomie, die von Geflüchteten betrieben wird, mit Wohnungen, mit Räumen für Sprachkurse und für Veranstaltungen, die die neuen und alten Münchnerinnen und Münchner zusammenbringen sollen. 

Was wir noch schaffen müssen

Doch Integration ist ein Langstreckenlauf, bei dem noch viele Aufgaben vor uns liegen. Trotz aller Erfolge sind viele Geflüchtete noch immer nicht wirklich integriert. Viele der Geflüchteten leben in München nach wie vor in prekären Wohnverhältnissen, oft in Gemeinschaftsunterkünften, vor allem aber auch häufig immer noch innerhalb ihrer jeweils eigenen Community. Diese Faktoren erschweren leider die gesellschaftliche Teilhabe und damit die Integration spürbar.

Im Bildungsbereich zeigen sich ebenfalls zunehmende Herausforderungen: Obwohl viele Kinder und Jugendliche in den Münchner Schulen mittlerweile durchaus integriert sind, haben Geflüchtete nach wie vor oft schlechtere Bildungschancen. Ein Viertel der Schüler mit Fluchthintergrund braucht zusätzliche Unterstützung, besonders in Deutsch und Mathematik. Bildungsungleichheit ist hier auch ein Risiko für die spätere Berufschance und soziale Teilhabe.

Darüber hinaus bleiben Vorurteile und Rassismus auf der einen Seite, aber auch die fehlende Anerkennung unserer gesellschaftlichen Normen und Regeln auf der anderen Seite ein Problem. Integration gelingt nur, wenn wir einander mit Respekt begegnen. Deshalb sind Projekte wie der Verein "München ist bunt" und andere Initiativen zur interkulturellen Verständigung und gegen Hasskriminalität unverzichtbar.

Integration ist keine Einbahnstraße

Die aktuelle politische Debatte zeigt, wie emotional und komplex das Thema Integration ist. München hat sich stets als weltoffene und tolerante Stadt präsentiert – das ist eine Stärke, aber auch ein Auftrag. Wir müssen weiter dafür sorgen, dass Integration nicht überwiegend als Belastung, sondern insbesondere auch als Chance, ja als Notwendigkeit für unsere Gesellschaft verstanden wird.

Das erfordert klare politische Entscheidungen: etwa die Förderung von Sprachkursen und Ausbildungsprogrammen, den Ausbau von bezahlbarem Wohnraum und mehr Unterstützung für Familien und Alleinerziehende. Integration ist keine Einbahnstraße – sie erfordert auch von allen Seiten Engagement und Kompromissbereitschaft.

Die "Willkommenskultur" von 2015 hat sich verändert

Die "Willkommenskultur", die 2015 stark präsent war, hat sich verändert: Während viele hier in München weiterhin relativ positiv gegenüber Migrant*innen eingestellt sind, wächst in Teilen der Gesellschaft die Skepsis hinsichtlich Integration, sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit im Zusammenhang mit dem Thema Migration. 

In München ist die Polarisierung weniger stark ausgeprägt, was einem großen Konsens der demokratischen Parteien im Münchner Stadtrat und der Stadtverwaltung zu verdanken ist, die auch immer wieder die Vorteile von Migration für die Stadtgesellschaft betonen – aber auch und vor allem, weil München als Großstadt auch schon vor 2015 mit dem Thema Migration vertraut war. Aber ohne ehrenamtliches Engagement wäre Integration auch in München nicht vorstellbar. Die Begleitung von Geflüchteten ist sehr zeitintensiv und häufig belastend.

Geflüchtete wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben

In den ersten Monaten nach Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine zeigte die Münchner Stadtgesellschaft im Februar 2022 erneut herausragende Hilfsbereitschaft. Zahlreiche Münchner*innen boten den geflüchteten Menschen ihre Unterstützung an, zum Beispiel in Form von Sachspenden, ermäßigten Kulturangeboten und Wohnraum in ihren privaten Wohnungen, zum Teil sogar bis heute.

In München bleibt ein "harter Kern" von Engagierten dauerhaft aktiv und gestaltet über relevante Netzwerke (zum Beispiel die kommunale Koordinierung des Bürgerschaftlichen Engagements Regsam, das Netzwerk zur Soforthilfe für Geflüchtete, den Münchner Flüchtlingsrat, Bellevue di Monaco, Lichterkette) die Migrationspolitik mit. Dieses Engagement der Zivilgesellschaft ist auch bei der Fluchtmigration aus der Ukraine wieder sichtbar geworden. 

Auch Geflüchtete betätigen sich zunehmend im ehrenamtlichen Bereich bei Institutionen und Bildungseinrichtungen. Sie alle möchten der Gesellschaft etwas zurückgeben.

Integration ist ein dauerhafter Prozess

Wir haben die Aufnahme und Integration der Geflüchteten von 2015 bis heute in München größtenteils gut geschafft. Die Stadtgesellschaft hat in einer schwierigen Situation Solidarität gezeigt, die Verwaltung hat schnell gehandelt, und viele Menschen haben sich erfolgreich eingelebt und leisten einen wertvollen Beitrag.

Doch die Herausforderungen bleiben bestehen und nehmen eher zu, da nach wie vor Geflüchtete in München ankommen. Und die Möglichkeiten, durch vernünftige Unterbringung, Betreuung und Beschulung die Integration dieser Menschen positiv zu unterstützen, lassen sich in München nicht dauerhaft unbegrenzt steigern.

Trotzdem: Integration ist ein dauerhafter Prozess, der mit Geduld, Mut und Zuversicht weiter vorangetrieben werden muss. Nur so können wir ein vielfältiges, solidarisches München gestalten, in dem alle Menschen eine faire Chance bekommen und wir als Gemeinschaft stärker zusammenwachsen.