Palmer: Aus Merkels Appell und Opportunismus entstand Ursünde unserer Asylpolitik

"Es liegt nicht in meiner Macht – und nicht in der Macht irgendeines Menschen in Deutschland – zu bestimmen, wie viele Menschen hierher kommen." Das sagte Angela Merkel in der Sendung von Anne Will am 7. Oktober 2015. Sätze wie dieser – und nicht der berühmte Appell "Wir schaffen das" – waren es, die mich im Herbst 2015 an den öffentlichen Erklärungen der damaligen Bundeskanzlerin verzweifeln ließen. 

Zu diesem Zeitpunkt kamen 10.000 Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland. Der Regierungspräsident hatte gerade angekündigt, den Tübinger Festplatz zu einer Zeltstadt mit Notunterkünften für Flüchtlinge zu machen. Einfache Projektionen zeigten, dass wir mit diesen Zahlen zentrale kommunale Versorgungssysteme in wenigen Monaten komplett überlasten würden, in Tübingen und in allen anderen Städten und Gemeinden.

Bei diesen Flüchtlingszahlen wurden Startbedingungen unvermeidlich schlechter

Das betraf nicht nur die Unterkunft, sondern auch den Spracherwerb, Integrationskurse, Sozialarbeit, Kinderbetreuung, Schulen, Arbeitsmarktqualifikation und ärztliche Versorgung. Der entscheidende Engpass war das qualifizierte Personal, also etwas, das man mit Geld gar nicht kaufen kann. 

Unvermeidlich mussten die Startbedingungen der Neuankömmlinge bei diesen Zahlen jeden Tag schlechter werden. Und der große Anteil allein reisender junger Männer, oft entwurzelt, traumatisiert oder mit Gewalt groß geworden, versprach nichts anderes als einen drastischen Kriminalitätsschub vor allem auf den Straßen und Plätzen der Städte.

Auf einer Ursünde beruhen fast alle heutigen Probleme der Asylpolitik 

In dieser Diagnose, das zeigten mir vertrauliche Treffen im Kollegenkreis, waren sich auch nahezu alle Bürgermeister vollkommen einig. Trotzdem regte sich kein Widerspruch gegen die Kanzlerin. Das schien politisch nicht opportun, weil damit die Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, die unverzichtbar schien, um irgendwie klarzukommen, rasch verebbt wäre. So dachten die meisten. 

Es war also eigentlich allen Verantwortlichen klar, dass wir es nicht schaffen konnten, und trotzdem hielt die Kanzlerin die Moral hoch, in dem sie Durchhalteappelle mit scheinbarer Alternativlosigkeit kombinierte. Das ist gewissermaßen die Ursünde, auf der fast alle Fehlentwicklungen und Probleme beruhen, die wir heute im Migrationsbereich beklagen müssen.

Merkel widerlegte sich mit Türkei-Abkommen selbst

Dass die Kanzlerin dabei nicht redlich argumentiert hat, kann man daran erkennen, dass sie schon fünf Monate nach dem Satz bei Anne Will das Abkommen mit Erdogan schloss, das die Fluchtroute über den Balkan weitgehend geschlossen und die Flüchtlingszahlen um 90 Prozent reduziert hat, ohne dass es den Menschen im Nahen Osten besser ging. Sie hatten immer noch die gleichen Fluchtgründe, aber Erdogans Soldaten versperrten ihnen den Weg. 

Es gab zumindest einen Menschen in Deutschland, der die Macht hatte, zu bestimmen, wie viele Menschen nach Deutschland kommen: Angela Merkel. Dass sie dies leugnete und den deutschen Staat fälschlich in einer zentralen Frage als handlungsunfähig darstellte, hat die Axt an das Vertrauen vieler Menschen in unser Gemeinwesen gelegt und in Form der AfD eine verheerende Spätfolge. 

Wenn man heute mit guten Gründen sagen kann, dass wir es im Großen und Ganzen doch geschafft haben, dann hat das nur den Grund, dass der deutsche Staat ab 2016 wieder das Heft des Handelns zurückgewonnen hat und den Zugang zum Asylsystem hierzulande zumindest so stark drosselte, dass die Kommunen unter größten Kraftanstrengungen die Probleme einigermaßen in den Griff bekommen konnten.

Die meisten Geflüchteten leben noch immer öffentlich finanziert

Die Bilanz dazu fällt gemischt aus und kann mit jeder künstlichen Intelligenz in einigen Sekunden recht treffsicher dargestellt werden. Wir haben sehr lange gebraucht, um die Geflüchteten in Arbeit zu bringen. Bei den Frauen gelingt es weiterhin kaum, die Erwerbsquote der Männer erreicht den Durchschnitt, sie verdienen aber meist wenig. Das liegt auch daran, dass wir viel zu hohe Hürden für Erwerbsarbeit von Geflüchteten aufrechterhalten und ausgerechnet unverzichtbare Fachkräfte abschieben oder ihren Familiennachzug unterbinden. 

Im Ergebnis ist ein sehr hoher dauerhafter Unterstützungsbedarf entstanden, der mittlerweile eine Dimension von 30 Milliarden Euro pro Jahr erreicht hat. Ein Betrag, den Deutschland seit dem Ende des Wirtschaftswachstums 2019 nicht mehr aus laufenden Einnahmen bezahlen kann, sondern über Schulden finanzieren muss. 

Die allermeisten Geflüchteten leben auch zehn Jahre nach dem großen Zustrom des Jahres 2015 in öffentlich finanzierten und vom Staat oder den Kommunen zur Verfügung gestellten Wohnungen. Damit üben sie bedauerlicherweise allein durch ihre Wohnungsnachfrage Druck auf Geringverdiener vor allem in den Städten aus, die aus diesem Grund weitaus weniger öffentliche Wohnungsangebote nutzen können. 

Geringe Bildungserfolge und hohe Kriminalitätsrate

Die Bildungserfolge der über das Asylrecht eingewanderten Menschen sind im Durchschnitt eher bescheiden. Die Kinder tun sich oft schwer, in der Schule mitzukommen und ziehen das Niveau des Unterrichts jenseits der Gymnasien nach unten. Es sind zu viele zur gleichen Zeit und sie sind vor allem in Brennpunkten zusammengefasst. Dass andere Schulen als diejenigen, die wir haben, das besser könnten, hilft dabei gar nicht weiter. 

Auf Schulhöfen, Bahnhöfen und Plätzen erfahren vor allem junge Menschen eine weitgehend überwundene Form des Rechts des Stärkeren bis hin zu massiver Gewaltanwendung mit Fäusten, Stangen und Messern. Die Attentate und Anschläge, Morde und Gruppenvergewaltigungen sind nur die von der Öffentlichkeit mittlerweile besonders sensibel registrierten Ausschläge dieser Veränderung. 

Seit 2015 sind Asylbewerber bei den schweren Gewaltdelikten stets etwa fünffach überrepräsentiert. Alle Versuche, das wegzuerklären, indem man auf die vielen Risikofaktoren verweist, die zu diesem Ergebnis führen, stimmen zwar, helfen aber nicht weiter. Es sind eben nur sehr wenige allein reisende ältere Damen unter den Geflüchteten gewesen. Rund 5 Prozent der Geflüchteten sind jene Mehrfachstraftäter, die fast allein das Problem verursachen und bislang viel zu wenig staatliche Härte erfahren haben. 

Aufstieg der AfD als großer Kollateralschaden des Kontrollverzichts

Für den deutschen Staat, Europa und das Modell der westlichen Demokratie sind die politischen und psychologischen Wirkungen vermutlich der größte Kollateralschaden des vorübergehenden Kontrollverzichts der Regierung Merkel im Herbst und Winter 2015. Der Aufstieg rechtspopulistischer, rechtsextremer und demokratiegefährdender Parteien in fast ganz Europa ist ohne die Überforderung weiter Teile der Bevölkerung durch den Zustrom von Migranten nicht zu erklären. Weil Deutschland lange Zeit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, gilt das für den Aufstieg der AfD in ganz besonderem Maße. Vor Merkels "Wir schaffen das" war sie auf dem Weg in die außerparlamentarische Opposition. 

Als ob das nicht genug wäre, kann sich die AfD bei weiten Teilen von Medien und Parteipolitik dafür bedanken, dass diese viel zu lange die Merkel-Linie verteidigt haben, Kritik als rechtslastig abgestempelt und reale Probleme lieber verschweigen wollten, weil man damit angeblich den falschen Kräften in die Hände spiele. 

Genau das hat man am Ende unwillentlich getan, indem der AfD die Chance eingeräumt wurde, über die nicht kontrollierbaren Blasen des Internets den Eindruck zu erwecken, sie seien die einzigen, die Messergewalt als Problem erkennen und die Schwierigkeiten mit einer viel zu hohen Zahl von Migranten in viel zu kurzer Zeit überhaupt angehen wollen.

Positive Entwicklung, aber die Kapazitäten sind ausgelastet

Mein Buch "Wir können nicht allen helfen" wurde Bestseller Nummer eins, weil es noch 2017 im demokratischen Spektrum kaum jemanden gab, der offen beschrieb, wie groß die Probleme sind und wie wir sie lösen könnten. Gut bekommen ist mir das nicht, seither gelte ich weithin als gesichert rechtspopulistisch und der Ausschlussantrag meiner langjährigen Partei Bündnis 90/Die Grünen war im Wesentlichen durch meine Aussagen zur Migrationspolitik begründet.

Boris Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Zuvor war er von 2001 bis 2007 Abgeordneter im Landtag von Baden-Württemberg. Palmer war bis 2023 Mitglied der Grünen. Nach mehreren innerparteilichen Konflikten ist er aus der Partei ausgetreten.

Alles in allem, das muss bei einer so klaren Ansprache der Probleme ausdrücklich gesagt werden, sind die Schwierigkeiten heute aber unter Kontrolle. Die Trends im Arbeitsmarkt, beim Spracherwerb, bei der Wohnungssuche, bei der Kriminalitätsprävention, sind allesamt positiv und die Gesamtwerte viel besser als 2017. 

Wir haben das geschafft, weil die Zugangszahlen über Asyl seither wesentlich niedriger waren und nur im Zuge des Ukrainekriegs nochmals eine Spitze wie 2015 erreicht haben. Völlig klar ist aber: Die drei Millionen Menschen, die in der Summe in unser Land gekommen sind, lasten alle Integrationskapazitäten vollständig aus. Wir werden noch Jahre brauchen, um Fortschritte zu erreichen, die volkswirtschaftlich die Bilanz ausgleichen und für die Zugewanderten wie die länger hier Ansässigen gute Verhältnisse im Zusammenleben sicherstellen. 

Keine Zuwanderung ist keine Option

Angela Merkel sollte sich also bei Friedrich Merz bedanken, dass die Zugangszahlen in das Asylrecht heute so niedrig sind wie seit zehn Jahren nicht mehr (mit einer kurzen Ausnahme in der Zeit der Corona-Lockdowns). Denn nur dadurch besteht die Chance, dass wir am Ende doch noch sagen können, wir haben es wirklich geschafft. 

Und damit niemand das hier alles bewusst falsch versteht: Qualifizierte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt benötigen wir allein aus demografischen Gründen sogar noch stärker als in den letzten Jahren. Keine Zuwanderung ist keine Option, sie muss aber geordnet und gesteuert werden. Und das steht in der Macht des deutschen Staates und der Europäischen Union.