Sorge vor Putin übertrieben? Ukraine-Erfolg im Schwarzen Meer entlarvt laut US-Denkfabrik „Torheit“
Die Ukraine konnte den Verlauf der Frontlinie zuletzt kaum ändern. Trotz großer Bemühung scheint es nicht voranzugehen. Ein Bericht widerspricht dem.
Kiew – Im Ukraine-Krieg scheint es für die Verteidiger zuletzt nicht besonders gut zu laufen. Die im Juni 2023 gestartete ukrainische Gegenoffensive gilt als gescheitert, die Militärhilfe der westlichen Verbündeten befindet sich im steten Sinkflug und Wladimir Putin wirkt so zuversichtlich wie selten zuvor. Alles nicht so schlimm, so ein Bericht der US-Denkfabrik Atlantic Coucil – schließlich habe die Ukraine im vergangenen Jahr trotzdem beachtliche Erfolge erzielt.
In einer Sache stimmt das Atlantic Council mit der sonstigen Berichterstattung über den Ukraine-Krieg überein: Vom Optimismus, der Anfang 2023 noch die vorherrschende Position war, ist nicht mehr viel übrig. An seine Stelle ist ein weitaus düstererer Ausblick getreten, was sowohl auf das Scheitern der Gegenoffensive als auch auf die wachsende Besorgnis über Verzögerungen bei der Militärhilfe internationaler Partner der Ukraine zurückzuführen ist.
Mut, Geschick und Einfallsreichtum – Doch keine Sackgasse im Ukraine-Krieg?
Trotzdem, so der Thinktank, sei es zu früh, bei den Bemühungen der Ukraine von einer Sackgasse zu sprechen. Obwohl sich die 1000 Kilometer lange Frontlinie des Konflikts in den vergangenen zwölf Monaten kaum bewegt habe, würden Ereignisse andernorts darauf hindeuten, dass ein militärischer Durchbruch noch realistisch sei. Laut dem Atlantic Council war es ein Fehler, dass sich die internationalen Medien auf die blutigen, aber weitgehend statischen Schlachtfelder in der Ost- und Südukraine konzentriert haben. Die dynamischsten Entwicklungen hätten in dem Zeitraum nämlich auf See stattgefunden, so der Bericht.

Dass die Ukraine es geschafft habe, Putins Flotte zum Rückzug von der Krim zu zwingen und die russische Seeblockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen zu durchbrechen, sei bemerkenswert – umso mehr, als das Land keine eigene Flotte besitzt. Dank Mut, Geschick und Einfallsreichtum des ukrainischen Militärs habe man trotzdem siegreich sein können – was nun zum Vorbild für einen größeren Sieg über Russland werden könne.
Waffenlieferungen ohne Einschränkungen – Moskau baut auf die Unentschlossenheit des Westens
Allerdings sei es dafür unverzichtbar, dass das ukrainische Militär über ausreichend westliche Waffen verfügt und diese zu bedienen weiß. Noch wichtiger sei allerdings, dass die ukrainischen Bemühungen nicht durch Restriktionen zum Einsatz dieser Waffen behindert würden. Diese Einschränkungen, so der Bericht, würden auf fehlgeleiteten Ängsten der westlichen Verbündeten vor einer möglichen Eskalation beruhen. Seit Beginn des Krieges hätten die westlichen Staats- und Regierungschefs wichtige Waffenkategorien zurückgehalten und gleichzeitig die Möglichkeiten der Ukraine, auf Russland zurückzuschlagen, aus Sorge vor einer möglichen Reaktion Moskaus eingeschränkt.
Es stehe außer Frage, dass Putin versucht habe, diese offensichtliche Zaghaftigkeit des Westens auszunutzen. Gleichzeitig habe der russische Staatschef aber – trotz immer dreisteren ukrainischen Angriffe auf Ziele auf der Krim – keine weiteren Schritte unternommen. Moskau habe lediglich im Glauben an die westliche Unentschlossenheit gedroht. Daher sei es für die Partner der Ukraine an der Zeit, das Säbelrasseln des Kreml zu ignorieren und die selbst auferlegten roten Linien aufzugeben. Die westliche Angst vor einer russischen Eskalation ist Putins Geheimwaffe – jetzt müsse man ihn entwaffnen.
Wolodymyr Selenskyj will Frieden – Kann dieser durch mehr Waffenlieferungen erreicht werden?
Der Bericht hebt auch hervor, dass der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj beim Weltwirtschaftsforum in Davos vergangene Woche darauf hingewiesen hat, dass ukrainische Beamte von den Verbündeten des Landes immer wieder das gleiche Mantra „keine Eskalation“ zu hören bekommen hätten. Jedes „Nicht Eskalieren“ habe für die Ukraine wie ein „Ihr werdet siegen“ für Putin geklungen. Allerdings hat der ukrainische Staatschef, im Gegensatz zum Weltwirtschaftsforum 2023, dieses Jahr nicht direkt um Waffen für neue Offensiven auf dem Schlachtfeld gebeten. Zwar verlangte er strengere Sanktionen für Moskau, sein Hauptaugenmerk lag jedoch auf der Forderung nach einem Frieden mit Russland. Das schreibt die New York Times.
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Laut Emma Ashford, Kolumnistin bei Foreign Policy und Senior Fellow des Programms „Reimagining U.S. Grand Strategy“ am Stimson Center, muss man jetzt erneut über die ukrainische Offensive sprechen. Man müsse sich fragen, was der beste Ansatz sei: ein langer Zermürbungskrieg oder der Versuch, einen Waffenstillstand zu finden. Beides habe seine Schattenseiten, man solle sich jedoch nicht vormachen, dass es einen anderen Ausweg gebe. Egal wie viele Waffen noch geliefert würden, könne man außerdem die Tatsache nicht ändern, dass eine Offensive schwieriger sei als eine Defensive.
Auch Barry Posen, Professor für Politikwissenschaft am MIT, wies in dem Magazin darauf hin, dass die Militärgeschichte nahelege, „dass die Herausforderungen hier auch gewaltiger sind, als gemeinhin verstanden wird – zumindest in der westlichen Öffentlichkeit“. Russland habe Monate Zeit gehabt, sich zu verschanzen und Befestigungen zu errichten. Es verfüge über mindestens drei befestigte Linien, die als „Verteidigung in der Tiefe“ bekannt sind, mit beträchtlichen Minenfeldern, die die ukrainischen Streitkräfte beim Vorrücken räumen müssen. Zudem würden beide Seiten zunehmend unzureichend ausgebildete Wehrpflichtige einsetzen. Egal wie man es drehe und wende: Man müsse sich zumindest eingestehen, dass die Ukraine einen schweren Kampf kämpft. (tpn)