Sozialausgaben von 1,2 Billionen Euro - Ampel streitet übers Bürgergeld - doch Deutschlands Sozialstaat hat größeres Problem
Die Sozialausgaben sind explodiert, meinen die einen. Oder um es mit Finanzminister Christian Lindner zu sagen: Sie seien Jahr für Jahr gestiegen. „Wenn es uns gelänge, mal drei Jahre mit dem auszukommen, was wir haben, dann wäre das ein ganz großer Schritt zur Konsolidierung.“
Deutschlands Sozialetat beträgt 1,2 Billionen
Die andere Seite, die SPD und rollengerecht ganz vorne weg die Linke, vertritt die andere Meinung: Gemessen an ihrem prozentualen Anteil am Bruttoinlandsprodukt sind die Ausgaben für Soziales und Renten in den vergangenen 25 Jahren kaum gestiegen, „teilweise sogar gesunken“ rechnet der Linken-Politiker Matthias Birkwald vor und geht zum Angriff über: Die Zahlen machten deutlich, dass Arbeitgeberverbände und die „konservativen und marktradikalen Parteien wie Union, FDP und AFD hier zu Unrecht ein Schreckgespenst an die Wand malen. Ich fordere darum alle Sozialstaatspaniker auf, ihren Alarmismus sofort einzustellen.“ Und wer hat jetzt Recht? Was geht beim Sozialetat?
Er ist der größte im Bundeshaushalt. 2024 hat die vom SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil geführte Behörde ein Budget von 175,7 Milliarden Euro zur Verfügung, das entspricht einem Anteil von 36,84 Prozent am Gesamthaushalt.
Das Ministerium von Hubertus Heil ist jedoch nicht allein für die Sozialleistungen zuständig, die aus dem Geld der Steuerzahler finanziert werden. Insgesamt beträgt das Sozialbudget Deutschlands 1179 Milliarden Euro, also rund 1,2 Billionen. Darin stecken beispielsweise Renten und Zuschüsse für Kranken- Pflege- und Unfallversicherungen, die zum Teil von den Versicherten selbst und von den Arbeitgebern aufgebracht werden. Damit hat sich das Sozialbudget in den letzten 30 Jahren fast verdreifacht. 1992 waren es noch 448,3 Milliarden Euro.
Explodierende Rentenkosten und Budgetüberschreitungen
Den größten Teil des Sozialbudgets machen Leistungen im Bereich „Alter und Hinterbliebene“ aus. Größter Posten ist mit einem Anteil von 29,7 Prozent die Rentenversicherung. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Linken-Anfrage stiegen die Ausgaben für die gesetzliche Rente von 86 Milliarden Euro 1992 auf 254 Milliarden Euro 2022. Am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen entspricht das einer Steigerung von 5,1 auf 6,6 Prozent. Der Bund gibt also im Verhältnis nur leicht mehr aus, um die Rente zu bezuschussen als vor 40 Jahren.
Trotz des unvorstellbar hohen Budgets gelingt es den zuständigen Ministern fast nie eine Punktlandung hinzubekommen, das heißt: Sie geben Jahr für Jahr mehr aus, als sie selbst geplant haben. Bei Hubertus Heil sind es vier Milliarden, um die seine Ausgaben in diesem Jahr bereits das übersteigen, was ursprünglich geplant war. Gegenüber dem, was für das vorausgegangene Jahr geplant war, beträgt die Steigerung damit 5,6 Prozent – bei einer gleichzeitig stagnierenden Wirtschaft sowie allerdings munter steigenden Steuereinnahmen.
Ein großer Posten außerhalb von Rente und Gesundheit sind die Sozialleistungen an Bedürftige. Sie sind seit Antritt der Ampelregierung tatsächlich massiv gestiegen. Während es den Vorgänger-Regierungen gelungen war, über ein Jahrzehnt die Ausgaben für Sozialleistungen und Arbeitslosengeld II bei rund 20 Milliarden Euro zu halten, ist das von Heil eingeführte Bürgergeld deutlich teurer: 26,5 Milliarden Euro darf er dafür ausgeben.
Sozialleistungsquote im Fokus
Die Summe war eigentlich höher, aber nach dem Karlsruher Haushaltsurteil vom vergangenen November gibt es sogenannte „Verbesserungen beim Job-Turbo zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten“, sowie stärkere Sanktionen für „Totalverweigerer“, die zu leichten Einsparungen führen sollen. Gekürzt wird auch bei den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit - um 50 Millionen Euro auf 4,15 Milliarden Euro. Dies soll durch die Streichung des Bürgergeldbonus gelingen. Bisher erhielten erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen Bonus in Höhe von 75 Euro für jeden Monat der Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen.
Um die Höhe der Sozialleistungen zu qualifizieren, ist die Sozialleistungsquote – also das Verhältnis der Sozialleistungen zum Bruttoinlandsprodukt - deutlich aussagekräftiger als die absoluten Zahlen. Zwischen 2011 und 2019 stieg die Sozialleistungsquote von 28,8 auf 30,1 Prozent maßvoll. Um die Folgen der Corona-Pandemie zu mildern, kam es im Jahr 2020 unter anderem zu steigenden Ausgaben beim Kurzarbeitergeld, bei der Pflegeversicherung und beim Kindergeld.
Der Anstieg der Sozialleistungsausgaben um 7,4 Prozent und der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3 Prozent führten von 2019 auf 2020 zu einem Anstieg der Sozialleistungsquote von 30,1 auf 33,4 Prozent. Inzwischen ist die Quote wieder leicht zurückgegangen.
Das Bürgergeld macht den Kohl nicht fett
„Wer von einem ungebremst wachsenden Sozialstaat spricht, oder davon, dass der Staat generell immer weiter aufgebläht werde, verbreitet eine Mär, die nicht durch Fakten gedeckt ist“, sagt deswegen Sebastian Dullien, Professor am SPD nahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Im OECD-Ländervergleich liegt Deutschland hinter Frankreich, Italien und zum Beispiel Österreich auf Platz sechs mit seiner Sozialquote. Der Vergleich hinkt aber, weil Renten- und Gesundheitssysteme in den Ländern unterschiedlich sind.
Fazit der Betrachtung: Das höchst umstrittene Bürgergeld macht den Kohl nicht fett. Es ist von den Zahlen her eher Symbolpolitik, wenn sich die Ampelkoalition drüber streitet. Der deutsche Sozialstaat hat größere Probleme als die Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit. Und wenn die Wirtschaft wieder wachsen würde, bliebe auch die Sozialleistungsquote im Rahmen. Falls sich eine Mehrheit findet, die den Sozialstaat wirklich beschneiden will, sind andere Wege als Kürzungen beim Bürgergeld aussichtsreicher.
Das Rentensystem beispielsweise frisst Jahr für Jahr einen größeren Teil des Bundeshaushalts und könnte, so eine ifo-Prognose, im Jahr 2050 schon 60 Prozent des ganzen Bundesetats beanspruchen. Bis dahin bleibt Zeit, um die Lebensarbeitszeit zu erhöhen und beispielsweise kräftig in einen kapitalgedeckten Anlagefonds zu investieren. So ließen sich die wachsenden Rentenansprüche finanzieren und gleichzeitig der übrige Sozialstaat entlasten.