Die ukrainische Raketenabwehr ist zuletzt deutlich löchriger geworden. Konnte sie im Sommer noch mehr als ein Drittel der russischen ballistischen Raketen abfangen, sank die Rate bis September auf nur noch sechs Prozent. Das ergibt eine Auswertung der "Financial Times" auf Grundlage von Daten des "Londoner Centre for Information Resilience".
Dass das in den USA produzierte Flugabwehrraketen-System Patriot kaum noch Erfolge erzielt, ist für die Ukraine schmerzhaft. Russland konnte in den vergangenen Monaten mit seinen Iskander- und Kinschal-Raketen wichtige Ziele treffen: Beispielsweise wurden mindestens vier Drohnenfabriken in und um Kiew schwer beschädigt. Zudem beschädigten die Geschosse auch die Büros der EU-Delegation und des British Council in der ukrainischen Hauptstadt.
Löchrige ukrainische Raketenabwehr wegen russischer Software-Anpassung?
Fabian Hoffmann, der an der Universität Oslo zu Militärtechnologie forscht, vermutet Software-Anpassungen an den Raketen als Grund für die gefallene Abfangrate. Die russischen Hersteller würden die Daten ihrer Geschosse regelmäßig auswerten, um die Leistung zu verbessern. Statt teurer Hardware-Änderungen könne mit Anpassungen an der Software viel erreicht werden, erklärte der Experte der "Financial Times".
Konkret geht es in diesem Fall offenbar darum, dass sich die russischen Raketen kurz vor dem Einschlag neuerdings anders verhalten. Die Iskander-M "kann in der Endphase recht aggressiv manövrieren", erklärt Hoffmann. Die Rakete tauche dann unerwartet steil ab – die Patriot-Systeme können die feindlichen Geschosse dann nur noch schwer verfolgen und bekämpfen.
Ukraine befürchtet "Game-Changer für Russland"
In der Ukraine beobachtet man das sorgenvoll. Die neuen Flugbahnen der Raketen seien ein "Game-Changer für Russland", sagte ein ehemaliger ukrainischer Beamter der "Financial Times". Deshalb hat man offenbar das US-Verteidigungsministerium und die Patriot-Hersteller Raytheon und Lockheed Martin eingeschaltet.

Die dorthin gelieferten Daten sollen nun verwendet werden, um ebenfalls Aktualisierungen an den Patriots vorzunehmen. Ein Beamter äußerte in der "Financial Times" allerdings die Befürchtung, dass das nicht ausreichen werde, um mit den Anpassungen Russlands Schritt zu halten. Es dürfte in den kommenden Monaten also ein Katz-und-Maus-Spiel geben, in dessen Folge möglicherweise Abfangraten wieder steigen, womöglich aber auch erneut fallen können.
Experte hat zwei weitere Erklärungsansätze für niedrige Abfangrate
Beim Fachportal "Hartpunkt" bringt Experte Hoffmann noch zwei weitere Erklärungsansätze für die gesunkene Abfangrate ins Spiel: Zum einen könnte Russland seine Ziele schlichtweg vermehrt in Gebiete suchen, die nicht von Patriots verteidigt werden. Die Abwehr wird also nicht überwältigt, sondern umgangen.
Das ließe sich mit mehr vorhandenen Patriot-Systemen ebenso beheben wie im Fall des zweiten Erklärungsansatzes von Hoffmann. Demnach wird die Ukraine aufgrund ihres gravierenden Mangels an Abfangraketen wahrscheinlich nur einen Abfangflugkörper pro anfliegender ballistischer Rakete einsetzen. In der Vergangenheit waren es offenbar noch zwei oder drei Abfangflugkörper pro Ziel, was die Trefferwahrscheinlichkeit erhöht.
Auch Deutschland muss sich Gedanken über Raketenabwehr machen
Derzeit sind Patriot-Abfangraketen die einzigen Waffen im Arsenal Kiews, die russische ballistische Raketen abschießen können. Wie viele der Systeme die Ukraine besitzt, ist nicht öffentlich. Bekannt ist aber, dass Deutschland drei Patriots geliefert hat, zwei weitere könnten noch abgegeben werden. Bekannt sind auch Lieferungen aus den USA, den Niederlanden, Rumänien und Israel. So dürften aktuell insgesamt rund zehn Systeme im Einsatz sein.
Da die Patriots auch Staaten wie Deutschland vor möglichen Angriffen schützen sollen, dürften die Abfangraten in der Ukraine hierzulande aufmerksam registriert worden sein. Hoffmann zieht bei "Hartpunkt" ein bitteres Fazit: Es sei wohl ein Punkt erreicht, an dem weitere europäische Investitionen in eine unvollkommene Raketenabwehrarchitektur nur noch marginale Gewinne zu hohen Kosten bringen würden.
Sinnvoller sei es deshalb, auf Gegenschläge zu setzen. Mit entsprechenden Waffen könnte die Ukraine dann die russische Produktion von Raketen treffen, sodass diese erst gar nicht losfliegen können.