Wenn zeitgenössische Romane, Filme, Lieder oder Netflix-Serien eine unterschwellige politische Botschaft haben, versuche ich normalerweise, diese so gut es geht zu ignorieren und mich ausschließlich auf die Handlung bzw. die Musik zu konzentrieren.
Ich tue das deswegen, weil mir von Anfang an klar ist, dass ich mit der politischen Meinung der Autoren nicht einverstanden sein werde, dass ich diese blödsinnig finde, und dass ich mich nur ärgere, wenn ich dem Beachtung schenke.
Wer die modischen Meinungen des linksgrünen Zeitgeistes nicht teilt, der findet sich eben irgendwann damit ab, dass die eigene Meinung in Film und Literatur praktisch nicht vorkommt. Insbesondere wirtschaftsliberale, pro-kapitalistische Positionen kommen bestenfalls als Strohmann-Variante, die einem Bösewicht zugeschrieben wird, vor.
Pro-kapitalistische Literatur bleibt meist subtil
Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen. Die bekannteste ist sicherlich Ayn Rand, deren Romane Atlas Shrugged (1957) und The Fountainhead (1943) zumindest in den USA nach wie vor einen gewissen Kultstatus haben. Dass es allerdings ausgerechnet Ayn Rand sein musste, der dieser Sonderstatus zuteilwurde, ist aus liberaler Sicht kein reiner Segen, denn Rand hatte ihre ganz eigene, selbst zusammengezimmerte – und zum Teil recht exzentrische – Philosophie.
Hinzu kommt noch, dass Rand etwas zu aufdringlich ist bei dem Versuch, dem Leser ihre Sicht der Dinge aufzuschwatzen. Bei einem guten politischen Roman sollte es möglich sein, dem auch dann noch etwas abzugewinnen, wenn man die politischen Ansichten des Autors nicht teilt.
Es gibt neben Ayn Rand noch weitere Beispiele pro-kapitalistischer Autoren, aber bei denen ist die politische Botschaft dann so subtil, dass man mit der Lupe danach suchen muss.
Technologische Utopie trifft politische Dystopie
Rainer Zitelmann ist es in seinem Romandebut "2075 – Wenn Schönheit zum Verbrechen wird" sehr viel besser gelungen, bei diesem Drahtseilakt die Balance zu wahren. 2075 spielt in einer Zukunft, die unserer Gegenwart technologisch weit voraus ist.
Serviceroboter und fahrerlose Autos sind inzwischen Standard, der Weltraumtourismus ist in vollem Gange, und sogar die Besiedelung des Mars hat begonnen. In politischer Hinsicht hat es dagegen keinerlei Fortschritt gegeben. Ganz im Gegenteil: Was das anbelangt, sind die 2070er eher eine übersteigerte Version der 2020er.
Es geht in 2075 um eine neue soziale Bewegung, die sich, vor allem an den Universitäten, wie ein Lauffeuer ausbreitet. Die "Bewegung für optische Gerechtigkeit" (genannt "MOJ" oder "MOVE") verfolgt ein Anliegen, das zunächst gar nicht mal unsympathisch erscheint. Ihre Aktivisten weisen darauf hin, dass äußerlich attraktive Menschen oft ohne eigenes Zutun Vorteile im Leben genießen. Das stimmt natürlich, und es wäre unsinnig, das abstreiten zu wollen.
Die Bewegung nimmt dann allerdings schnell fanatische, sektenhafte Züge an. Solange sich das auf Universitäten und vereinzelte Protestaktionen beschränkt, ist das nicht weiter schlimm.
Schon bald aber beginnt eine der großen politischen Parteien, die "Gerechtigkeitspartei" sich einige der Positionen von MOVE zu eigen zu machen. Und zwar nach dem Motto: Natürlich sind uns MOVE zu radikal, aber ihr Anliegen ist berechtigt, und wir können es nicht einfach ignorieren.
Schon bald werden die ersten politischen Maßnahmen ergriffen, um die "optische Ungerechtigkeit" zu bekämpfen: etwa eine Sondersteuer auf schöne Menschen. Anstatt die Bewegung zu besänftigen, radikalisiert sie das dann allerdings erst recht, und das Ganze schaukelt sich hoch, bis es ins Totalitäre abrutscht.
Zitelmann hält der Gegenwart den Spiegel vor
Natürlich geht es in 2075 nicht wirklich um Schönheit oder "optische Gerechtigkeit". MOVE ist vielmehr eine sehr deutliche Anspielung auf die sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren – vor allem im angelsächsischen Raum, aber auch weit darüber hinaus – die Universitäten und die sozialen Medien beherrscht haben.
Man denke vor allem an die Massenhysterie, die Anfang dieses Jahrzehnts um Black Lives Matter (BLM) ausbrach, oder an die vergleichbare Massenhysterie um die Gender-Bewegung. Auch zu den sozialistischen Jugendbewegungen um Bernie Sanders in den USA und um Jeremy Corbyn in Großbritannien lassen sich Ähnlichkeiten beobachten.
Natürlich darf in der Romanliteratur etwas übertrieben werden, denn das ist ein völlig legitimes Stilmittel, aber wer 2075 als hanebüchen abtun will, der hat in den letzten Jahren schlicht nicht aufgepasst.
Selbstradikalisierung aus Gruppenzwang
Die soziale Dynamik, die Zitelmann da beschreibt, hat er sich nicht aus den Fingern gesogen. Das konnte man vielmehr ziemlich genau so an den Universitäten und auf den sozialen Medien beobachten.
Auch bei BLM und der Gender-Bewegung entstand ein Überbietungswettbewerb, bei dem jeder Aktivist versucht, noch ein bisschen radikaler zu sein als seine Genossen, weil man so das eigene Prestige in der Gruppe erhöhen kann.
Wer den Überbietungswettbewerb nicht selbst initiiert, der will zumindest nicht hinter der Gruppe zurückbleiben. So sorgt der Gruppenzwang für eine schrittweise Selbstradikalisierung.
Auch bei diesen Bewegungen war von Anfang an eine extreme Intoleranz gegenüber Andersdenkenden zu beobachten. Aktivisten für "soziale Gerechtigkeit" glauben oft, dass die normalen Spielregeln einer Debatte für sie nicht gelten.
Ich tue das ja alles im Namen der Unterdrückten und Entrechteten, sagen sie sich. Ich stehe auf der richtigen Seite der Geschichte! Warum soll ich tolerant sein gegenüber Leuten, die bestimmt heimlich Faschisten sind und die ihre "Redefreiheit" doch nur dazu nutzen, ihre unverdienten Privilegien zu zementieren?
Radikale treiben die Agenda
Auffallend war auch, dass sich die moderate Linke, wenn es hart auf hart kommt, oft nicht traut, der radikalen Linken Paroli zu bieten. Man distanziert sich zwar von den gröbsten Exzessen, will es sich mit diesen Leuten aber nicht verscherzen.
Die Dynamik zwischen MOVE und der Gerechtigkeitspartei, die Zitelmann da beschreibt, entsprach ziemlich genau der Dynamik zwischen Black Lives Matter und der Demokratischen Partei in den USA.
Auch die Universitätsleitungen lassen sich oft von den radikalsten Studentenaktivisten an der Nase herumführen, denn man möchte auf keinen Fall als ewiggestrig oder "uncool" gelten.
So bildet sich dann um einen harten ideologischen Kern herum ein noch viel größerer Kreis von Mitläufern und Opportunisten, die nie so richtig dabei sind, die aber auch auf gar keinen Fall den Zorn der Bewegung auf sich ziehen wollen.
Über den Gastautor
Der Rezensent: Dr. Kristian Niemietz (Diplom-Volkswirt) ist Editorialdirektor am britischen Institute of Economic Affairs, bei dem er seit 2008 tätig ist. Er studierte Volkswirtschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Political Economy am King's College London.
Niemietz ist der Autor der Bücher A New Understanding of Poverty (2011), Redefining the Poverty Debate (2012), Universal Healthcare Without the NHS (2016), Socialism: The Failed Idea That Never Dies (2019) und Imperial Measurement: A Cost-Benefit Analysis of Western Colonialism (2024).
2021 übersetzte er Socialism: The Failed Idea That Never Dies auch ins Deutsche: Es erschien unter dem Titel Sozialismus: Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt beim Finanzbuch Verlag.
Hass trifft auch Feministinnen alter Schule
Das ist allerdings eine, gelinde gesagt, kurzsichtige Strategie. Wer Zitelmann in die Ecke des rechten Kulturkämpfers stellen will, der sollte bedenken, dass es oft Leute auf der gemäßigten Linken sind, die ins Fadenkreuz von Bewegungen wie denen, die für MOVE Modell standen, geraten.
Die Hassfiguren der Gender-Bewegung sind ja oft Feministinnen alter Schule, die politisch eindeutig links stehen, die aber nicht glauben, man könne sein Geschlecht einfach per Deklaration ändern.
An erster Stelle steht hier sicher J.K. Rowling, die Autorin der Harry-Potter-Saga, die jahrelang eine Großspenderin der Labour-Partei war. In Deutschland weniger bekannt ist wohl der Fall von Kathleen Stock, einer britischen Feministin, die an der Universität von Sussex lehrte, bis sie wegen ihrer Gender-kritischen Ansichten von einem Studentenmob herausgemobbt wurde.
Zitelmanns Roman ist keine bloße Dystopie
Ich selbst bin als Leser etwas voreingenommen: Ich kenne die Sachbücher von Rainer Zitelmann, und weiß, dass ich seine politische Weltsicht im Wesentlichen teile. Ich glaube aber nicht, dass das unbedingt erforderlich ist, um diesen Roman zu mögen.
Natürlich kann man die politische Botschaft nicht einfach ignorieren, aber man kann 2075 auch als einen spannenden futuristischen Roman lesen. Wäre es "nur" ein politischer Roman, dann hätte man die Handlung nicht so weit in die Zukunft verlegen müssen: Das Jahr 2026 hätte es dann auch getan. Dass der Roman stattdessen in den 2070ern spielt, hat schon seinen Grund, und zwar den, dass der Autor sich zurzeit sehr intensiv mit den Themen Raumfahrt und Weltraumwirtschaft beschäftigt.
Als Prophezeiung ist 2075 sicher nicht gedacht. Es ist eher eine Milieustudie der "progressiven" Bewegungen unserer Zeit, kombiniert mit fundierter Futurologie. Es bleibt zu hoffen, dass die technologische Entwicklung der nächsten Jahre und Jahrzehnte so in etwa in die Richtung geht, die Zitelmann beschreibt, und dass wir gleichzeitig die politischen Ideen, die den Roman inspiriert haben, in den frühen 2020ern zurücklassen.
Das Buch "2075. Wenn Schönheit zum Verbrechen wird" erscheint am 12. Mai im Verlag Langen Müller