Friedrich Merz hat sich bei Kanzler-Wahl ins Ziel geschleppt

Der zweite Wahlgang bei der Kanzlerwahl von Friedrich Merz ist ein historisches Ereignis – und ein missglückter Start für die neue schwarz-rote Koalition. Trotz des dann doch überraschend deutlichen Ergebnisses liegt ein Schatten auf der neuen Regierung.

"Wir müssen gerade alle erst mal durchatmen und verstehen, was an diesem denkwürdigen Tag passiert ist", sagt FOCUS-online-Chefredakteur Florian Festl.

Im ersten Wahlgang hatten Merz noch sechs Stimmen gefehlt. Festl berichtet von "fundamental enttäuschten Menschen", die nun Teil der Regierung seien. Partei- und Fraktionsspitzen hätten nach dem missglückten ersten Wahlgang "regelrecht gefleht", um die Abweichler zur Rückkehr zu bewegen. 

Der Erfolg im zweiten Durchgang ändere nichts an dem Makel: "Er hat sich gewissermaßen ins Ziel geschleppt, wenn auch schwer verwundet."

Reitz: Erstes Misstrauensvotum gegen Kanzler Merz

FOCUS-online-Chefkorrespondent Ulrich Reitz spricht von einem "verpatzten Start". Es sei das "erste Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler". Und das, bevor er überhaupt ins Amt gewählt wurde.

Die Gegenstimmen hätten sich in erster Linie gegen Merz, in zweiter Linie gegen den designierten Vizekanzler Lars Klingbeil gerichtet. Wer dagegen stimmte, bleibe offen – doch Reitz betont: "Es gibt eine Menge Leute, die Motive hatten, auch aus der Union gegen Merz zu stimmen."

Es bleibt ein historischer Makel. "Friedrich Merz wird sich auch nichts vormachen. [...] So wird im Geschichtsbuch stehen, dass Friedrich Merz der erste Bundeskanzler ist, der es erst geschafft hat im zweiten Wahlgang", so Reitz weiter. 

Die Koalition muss von Tag eins an liefern

Festl beschreibt Merz als Politiker, dem es nicht gegeben sei, ein Plenum zu begeistern: "Er musste schwer kämpfen", sagt er – nun aber könne er seine Stärken zeigen: "Das Amt des Kanzlers stattet ihn jetzt mit Möglichkeiten aus, die er nie hatte."

Inhaltlich stehen große Herausforderungen bevor. Reitz nennt die gestörten Beziehungen zu den USA unter Trump, die Entwicklung im Nahen Osten und die Ukraine-Politik. "Es wird in jedem Fall einen Neuanfang geben, auch stilistisch. Aber die Koalition ist vom ersten Tag an in Charge."

Klingbeil ist als Architekt der SPD-Wahlniederlage der größte Profiteur

Auch Lars Klingbeil steht unter Druck. Reitz betont: "Auch er muss noch beweisen, dass er ein integrativer Typ ist." Er müsse die Partei bei schwierigen Themen wie Migration und Verteidigung hinter sich bringen. 

Festl ergänzt: "Man hat [...] gesehen, dass er auch sehr brutal vorgehen kann." Bis auf Boris Pistorius seien alle Minister ausgewechselt worden – teils gegen Personen mit großer Hausmacht. "Sehr viele Leichen seinen Weg pflastern."

Reitz urteilt: "Der größte Profiteur dieser Regierung ist der Architekt der größten Wahlniederlage in der Geschichte der SPD."

Das Misstrauen in der Partei sei groß, Klingbeils Integrationskraft müsse sich erst beweisen. "Den Preis für den Umgang mit Saskia Esken, den wird Lars Klingbeil noch bezahlen müssen."