Bei den Grenzkontrollen steht der Bundesregierung die nächste Hürde bevor – unabhängig von den rechtlich umstrittenen Zurückweisungen. Denn am Donnerstag ist eine wichtige Frist abgelaufen, durch die weitere Kontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz rechtswidrig werden könnten. Dabei zeigt ein aktueller Fall, welche eklatanten Mängel die europäische Flüchtlingspolitik aufweist. Für Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ist der deutsche Alleingang trotzdem heikel.
Vor genau zwei Jahren hat die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den härteren Asylkurs eingeschlagen. Bei der EU-Kommission meldete Dobrindts Vorgängerin die vorübergehenden Schengen-Binnengrenzkontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz an. „Um die Schleusungskriminalität noch stärker zu bekämpfen und die irreguläre Migration zu begrenzen“, wie das Haus damals betonte. Das Problem: Diese temporären Kontrollen dürfen laut Schengener Grenzkodex maximal zwei Jahre andauern.
Bundesinnenministerium weicht Fragen aus
Auf Fragen zu der Frist geht das Bundesinnenministerium nicht ein. Stattdessen beruft es sich auf eine Verlängerung der Kontrollen, die Faeser zum 16. September 2024 angekündigt hatte – seitdem überprüft die Bundespolizei die Grenzen zu allen Nachbarländern. Die Kontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz von 2023 liefen da aber bereits fast ein Jahr.
An der Begründung hat sich indes nur wenig geändert. Trotz deutlich sinkender Asylantragszahlen spricht das BMI von einem „stetigen Migrationszugang“ und einem zurückliegend zu hohen Migrationsgeschehen, das die Aufnahme-, Versorgungs- und Integrationseinrichtungen be- und überlaste. Die Kontrollen seien „weiterhin erforderlich“.

Experte: Weg von Dobrindt kein Novum
Für Rechtsexperten ist die Argumentation nur wenig überzeugend. „Die Zweijahresfrist ist zwingend“, sagt Jonas Bornemann, Assistenzprofessor für Europäisches Recht an der Universität Groningen, zu FOCUS online und merkt an: „Allerdings haben die Mitgliedstaaten diese Frist wiederholt in der Praxis dadurch ausgehebelt, dass sie nach Ablauf der zwei Jahre Binnengrenzkontrollen auf Grundlage einer neuen Gefahrenlage fortgeführt haben.“ Dass Dobrindts Haus daran festhält, wäre also kein Novum. Und: Deutschland kontrolliert seit deutlich mehr als zwei Jahren die Grenze zu Österreich, bis jetzt ohne rechtliche Probleme.
Dabei habe der Europäische Gerichtshof bereits entschieden, dass für eine erneute Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen eine neue Gefahrenlage vorliegen müsse, sagt Bornemann. Die Bekämpfung von Schleusungskriminalität und irregulärer Migration hat Faeser bereits 2023 ins Feld geführt. Dobrindt bräuchte jetzt eigentlich weitere Argumente. „Rechtlich ist hier also die Bundesregierung in der Pflicht, die erneute Wiedereinführung von Grenzkontrollen durch eine ‚neue‘ Gefahrenlage zu rechtfertigen“, sagt Bornemann. Bislang habe er nur „marginale Änderungen der Gefahrenlage“ als Begründung beobachtet. Bornemann schlussfolgert: „Das ist in meinen Augen nicht in ausreichendem Maße geschehen.“
Zahl der Asylanträge sinkt deutlich
Hinzu kommt, dass die Zahl der neuen Asylanträge auf dem niedrigsten Wert der vergangenen fünf Jahre liegt, was die Bundesregierung auch als ihren Erfolg ansieht. Von Januar bis September waren es rund 88.000 Asylanträge. Im September waren es weniger als 10.000 – bei der Wiedereinführung der Grenzkontrollen vor zwei Jahren zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch mehr als 25.000.
Zur Wahrheit gehört zwar auch, dass die Zahl der Asylfolgeanträge seit Juni durch die Decke schießt und im September erstmals die Marke von 10.000 überschritten hat. Das hat allerdings nichts mit den Grenzkontrollen zu tun. Deshalb ist fraglich, inwiefern die Argumentation der Migration noch als Grund für eine Gefahrenlage taugt. In den bisherigen Erklärungen betonte das BMI selbst, dass die Vorgaben eine „ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit“ voraussetzen.
Unterstützung für Kurs von CSU-Mann Dobrindt
Unterstützung für seinen Kurs erhielt Dobrindt jüngst von NRW-Innenminister Herbert Reul. „Ich war als überzeugter Europäer nie ein Fan der Grenzkontrollen. Aktuell bringen sie uns aber weiter“, sagte der 73-Jährige im Interview mit FOCUS. Die sinkenden Asylzahlen seien ein Signal an die Bürger und die Nachbarländer, die Migranten teils nach Deutschland durchgewunken hätten. Deutschlands Kehrtwende habe einen Dominoeffekt ausgelöst: „Die Kontrollen führen dazu, dass sich auch unsere Nachbarn Gedanken über Außengrenzschutz machen. Jetzt müssen wir uns gemeinsam um den Schutz der EU-Außengrenze kümmern.“
Auch EU-Migrationskommissar Magnus Brunner äußerte in der "Aachener Zeitung" Verständnis für die deutsche Situation. Wichtig sei ihm vor allem, dass die Grenzkontrollen temporär seien und mit den Nachbarn abgesprochen würden. Seine Kritik richtete sich mehr gegen veraltete Gesetze als die politischen Entscheidungen oder Gerichtsurteile: „Sie passen nicht mehr auf die heutige Zeit. Darum ist es unser Job als Politiker in den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene, diese unzeitgemäßen Regeln anzupassen.“

"Entspricht nicht dem Geist des Schengen-Abkommens"
Politikwissenschaftler Raphael Bossong sieht die deutschen Grenzkontrollen kritisch: „Das entspricht schlicht nicht dem Geist des Schengen-Abkommens.“ Die sinkenden Asylzahlen seien auch weniger auf die deutschen Kontrollen oder Zurückweisungen von Asylsuchenden zurückzuführen als auf die veränderten Lagen etwa in Syrien, Afghanistan oder der Türkei. In ganz Europa seien die Zahlen rückläufig.
Bossong weist darauf hin, dass der Schengener Grenzkodex eine Sonderregel enthält. Damit wären auch Grenzkontrollen über drei Jahre möglich. „Dafür braucht es aber eine klare Beweislage, den Austausch mit den Nachbarn und einen EU-Ratsbeschluss. Nichts davon ist passiert“, sagt Bossong, der bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Thema Grenzsicherung forscht. Das aktuelle politische Handeln beschreibt er mit dem Motto: „Wir machen das und nichts passiert.“ Solange sich die Kommission nicht traue, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, könne die Bundesregierung wohl so fortfahren.
Bundesregierung in der Zwickmühle
Sowohl Faeser als auch Dobrindt hätten sich mit den Entscheidungen in eine Zwickmühle begeben, sagt der Politikwissenschaftler. „Wenn Dobrindt die Grenzkontrollen jetzt aufhebt, ist das gegen das eigene Narrativ“, sagt er. Vor allem durch die Ankündigung, die Kontrollen „bis auf Weiteres“ oder bis zu funktionierenden Außengrenzen aufrechtzuerhalten, sei es nun schwierig, die rechtlich problematische Situation aufzulösen.
Dabei zeigt der Fall von drei Somaliern, dass auch das EU-Recht in Form der Dublin-III-Verordnung in der Praxis Lücken aufweist. Die waren im Sommer von der Bundespolizei nach Polen zurückgeschickt worden. Das Verwaltungsgericht Berlin erklärte das für rechtswidrig, Deutschland hätte in einem Dublin-Verfahren die Zuständigkeit prüfen müssen. Doch nach Informationen von FOCUS online erklärten weder Litauen, wo das Trio in die EU eingereist war, noch Polen sich bereit, ihre Asylanträge zu bearbeiten.
Zuerst hatte die "Bild" darüber berichtet. Damit muss Deutschland nun ihre Verfahren übernehmen. Mit einer Gesamtschutzquote von zuletzt 60,2 Prozent haben Somalier den zweithöchsten Wert unter den Nationalitäten, die in Deutschland Schutz suchen.