„Plötzlich und mitten in der Nacht“ - Experte erklärt, was hinter Erdogans Einmarsch-Drohung an Syrien steckt

„Plötzlich und mitten in der Nacht“ könne die Türkei in Syrien einmarschieren, droht der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Die Türkei werde ihre nationale Sicherheit verteidigen, sagte er am Montag nach einer Kabinettsitzung.

Ankara besteht nach dem Sturz des Assad-Regimes auf der Auflösung des kurdischen Autonomiegebietes an der türkischen Grenze.

Erdogans Warnung richtet sich an die syrische Kurdenmiliz YPG, die ihre Waffen niederlegen soll. Zugleich macht er Druck auf die neue HTS-Regierung in Damaskus, die eine Entwaffnung aller Milizen im Land versprochen hat und dies jetzt im syrischen Kurdengebiet umsetzen soll.

Erdogan führt Gespräche mit PKK-Führer Öcalan

Sein Ziel sei eine „terrorfreie Türkei“, sagte Erdogan. Die Terrorgruppe Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist in den vergangenen Jahren in der Türkei und im Nordirak unter starken Druck der türkischen Armee geraten.

Nach dem Umsturz in Syrien, wo die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als syrische Untergruppe der PKK eine Selbstverwaltungszone aufgebaut haben, sieht Ankara die Gelegenheit, den Kurdenkrieg nach 40 Jahren endgültig für sich zu entscheiden.

Erdogans Regierung führt seit Kurzem indirekte Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan, um ihn dazu zu bewegen, das Ende des bewaffneten Kampfes zu verkünden. Kurdische Politiker durften Öcalan dafür zum ersten Mal seit fast zehn Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali bei Istanbul besuchen.

„Die Schlinge um die Terrororganisation und ihre Ableger in Syrien zieht sich zu“, sagte Erdogan nach der Kabinettsitzung. Die Drohung mit einem Einmarsch in Syrien begründete er damit, dass die Türkei keine Bedrohung ihrer Sicherheit durch die Kurden im Nachbarland hinnehmen und die staatliche Einheit Syriens bewahren wolle.

Vorige Woche hatte er die Kurden gewarnt, sie sollten ihre Waffen begraben – „oder sie werden mit ihren Waffen begraben“.

Türkei sieht sich in starker Position

Die Regierung in Ankara sieht sich seit dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad am 8. Dezember in einer starken Position. Sie hat langjährige und enge Beziehungen zur Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) und deren Chef Ahmed al-Scharaa, die Syrien seit Dezember regieren.

Zudem hält die türkische Armee seit dem Jahr 2016 mehrere Gebietsstreifen in Nord-Syrien besetzt. Pro-türkische Milizen im Norden Syriens rücken seit Dezember gegen die syrischen Kurden vor; allein in den vergangenen Tagen starben bei Gefechten dort mehr als hundert Menschen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte.

Die USA, der wichtigste Partner der syrischen Kurden, könnten nach dem Amtsantritt von Donald Trump in knapp zwei Wochen ihre rund 2000 Soldaten aus Syrien abziehen.

Der neue starke Mann in Damaskus, Scharaa, will alle Milizen in Syrien auflösen und in neue staatliche Streitkräfte eingliedern. Sollte er das durchsetzen, wäre dies das Ende der YPG als eigenständige Streitmacht, was den Interessen der Türkei entsprechen würde. Der HTS-Chef erklärte außerdem, seine Regierung werde es der PKK nicht erlauben, Syrien als Stützpunkt zu nutzen.

Gespräche über Zukunft Nordsyriens

Bisher gibt es jedoch keine konkreten Anzeichen für eine Entwaffnung der Kurdenkämpfer. Scharaa traf sich vorige Woche mit Gesandten der Kurden zu einem Gespräch über die Zukunft Nordsyriens. Von kurdischer Seite hieß es anschließend, bei dem Treffen habe es Fortschritte gegeben.

Die syrischen Kurden drängen auf einen Abzug der türkischen Truppen aus dem Norden Syriens. HTS und YPG arbeiten in der Großstadt Aleppo bereits zusammen: Dort hat die HTS der Kurdenmiliz die Kontrolle über kurdische Stadtteile überlassen.

Erdogans Aussage ist ein Signal an die Führung in Damaskus und Kurden zugleich.

Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien

Erdogan hatte im Dezember den türkischen Geheimdienstchef und den Außenminister nach Syrien geschickt und will nach Medienberichten bald auch selbst nach Damaskus reisen. Möglicherweise will er damit jedoch warten, bis es Fortschritte bei der Auflösung der YPG gibt.

Mit seiner Warnung nach der Kabinettsitzung habe Erdogan noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig das Thema für Ankara sei, sagt Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien.

„Erdogans Aussage ist ein Signal an die Führung in Damaskus und Kurden zugleich“, sagte Cicek dem Tagesspiegel. Der türkische Staatspräsident wolle verhindern, dass sich Scharaa und die Kurden auf eine Zusammenarbeit einigen.

Dass die türkische Armee bald ein weiteres Mal in Syrien einmarschiert, ist aber unwahrscheinlich. Erkennbare Vorbereitungen wie eine Truppenkonzentration an der Grenze gibt es bisher nicht.

Erdogan würde sich mit einem Einmarsch viele Sympathien im neuen Syrien verscherzen. Neue Kämpfe würden auch die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat behindern.

Auch müsste Erdogan erst einmal die türkische Bevölkerung vom Sinn einer neuen Intervention überzeugen, meint Cicek. Schon jetzt gebe es vom Ukraine-Krieg bis zum Konflikt in Gaza genug Krisen in der Region um die Türkei.

Der Politikwissenschaftler hält jedoch begrenzte Einsätze von Elitetruppen der türkischen Armee in Syrien für möglich.

Von Susanne Güsten