Ukraine spart mit Schüssen – Putins Armee wieder am Drücker

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Der Kalte Krieg hat den Westen eingelullt, und seine Versäumnisse legt die Gegenoffensive der Ukraine offen: Den Verteidigern geht die Munition aus.

Kiew – Rafael Loss hat das Kommen sehen: Die Verteidiger haben ihr Pulver verschossen; zumindest weitestgehend. Damit scheint sich die Gunst im Ukraine-Krieg Russland und der Invasionsarmee von Wladimir Putin zuzuneigen. „Wir haben verpasst, die Produktion hochzufahren – das fällt der Nato jetzt auf die Füße“, sagte der Analyst von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations gegenüber der Tagesschau bereits am Anfang dieses Jahres. Inzwischen spricht das Military Watch Magazine sogar von lähmender Munitionsknappheit der ukrainischen Artillerie. Der Schwung der Gegenoffensive der Ukraine scheint damit dahin.

Das Magazin berichtet, die Artillerie der Verteidiger müsse sich mit zehn bis 20 Schuss pro Tag begnügen. Grund dafür: Die westlichen Staaten hatten die Bedeutung der Artillerie in einem kommenden militärischen Konflikt unterschätzt; was sich jetzt an der Ostflanke der Nato bitter rächt. Während einige Länder, darunter China, Südkorea und Nordkorea, stark in den Einsatz hochmoderner Artilleriesysteme investiert haben, wurde diese Waffengattung von vielen Großmächten, insbesondere im Westen, lange Zeit übersehen, weil sie davon ausgingen, dass die Luftwaffe für die Offensiven in Konflikten des 21. Jahrhunderts weitaus entscheidender sein würde.

Ukrainische Soldaten bedienen eine M777
Bis zur letzten Granate: Der ukrainischen Artillerie geht die Munition aus; vor allem für die Haubitzen, wie der amerikanischen M777 (Symbolbild). © Ukrinfrom/imago-images

Auch Military Watch bezeichnet die aktuelle Situation als eine Krise mit Ansage: Der extreme Munitionsmangel wurde erstmals Ende 2022 als ernstes Problem der gesamten Artillerie der Ukraine hervorgehoben, da die Nato-Mitglieder aufgrund der sehr begrenzt vorhandenen bodengestützten Luftverteidigungsanlagen und Produktionskapazitäten nicht annähernd in der Lage waren, ihr Arsenal schnell aufzustocken, geschweige denn, die Ukraine nachhaltig zu versorgen. Diese Herausforderung gilt sowohl für die klassische Rohr- als auch die modernere Raketenartillerie. Diese Systeme waren zentrale Prioritäten für die Modernisierung der Armee, wobei der Rückzug Washingtons aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen im Jahr 2018 den Weg auch für die Anschaffung bodengestützter Raketen mit Reichweiten von mehr als 500 Kilometern als Ergänzung zu seinen Artilleriekräften ebnete. Russlands eigene taktische Raketen, insbesondere die Iskander- und Kalibr-Raketen, gelten als eines der erfolgreichsten Waffensysteme in der Ukraine.

Munitions-Engpass: Die westliche Rüstungsindustrie ist im Kalten Krieg eingeschlafen

Die Ukraine braucht daneben vor allem Artilleriemunition vom Kaliber 155 Millimeter. Das ist die Standardgröße für Nato-Waffensysteme, die auch der Ukraine geliefert wurden, beispielsweise die gezogene Haubitze M-777 aus amerikanischen Beständen. Das Kernproblem sieht Analyst Loss in der konfliktarmen Zeit vor dem Ukraine-Krieg, wie er der Tagesschau erläutert hat: „Die Rüstungsindustrie hat ihre Produktionskapazitäten in den vergangenen Jahren stetig abgebaut. Es gab einfach keinen nennenswerten Markt mehr für Waffen großen Kalibers - anders als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sei klar gewesen, dass sich die Lage ändern werde.“ Da war der richtige Zeitpunkt seiner Meinung nach allerdings schon lange verpasst.

Denn die Herstellung von Munition ist mitunter komplex und verlangt einzelne Komponenten, die wiederum von individuellen Lieferketten abhängen, also die Gehäuse, der Zünder, Sprengstoff und die separate Treibladung. Diese Treibladung erzeugt den Druck, um das Geschoss aus einem Rohr zu stoßen. Problematisch sei schon, diese Bauteile auf dem Weltmarkt zu beschaffen, erklärt Experte Loss – beispielsweise sei TNT auch beschafft worden aus Japan, das sich verpflichtet hat, keine Waffen direkt an eine Kriegspartei zu liefern. „Wir haben in der Corona-Pandemie gesehen, wie anfällig Lieferketten sein können. Und zum Beispiel bei den Sprengmitteln sind viele europäische Staaten abhängig von China.“ Mit China also dem Staat, der an der Seite Russlands steht und seine eigene Waffenproduktion hochgefahren hat. Zwar wird auch in Europa Sprengstoff hergestellt – aber in vergleichbar kleinen Mengen.“

Gegenoffensive: Ukraine muss sich gut überlegen, wann und auf wen sie schießt

Dazu käme seiner Expertise nach die, technisch bedingt, lange Produktionszeit. Loss: „Selbst wenn Sprengstoff vorhanden ist, dauert es oft noch Monate, bis er in ein Geschoss gefüllt werden kann. Er muss erst ausdünsten, bestimmte Gase müssen entweichen. Nur so kann die Munition zuverlässig in Waffensystemen funktionieren. Das zieht die Produktion aber in die Länge.“ Gegenüber der Washington Post beklagte sich deshalb jüngst ein als Unteroffizier „Danylo“ zitierter Artillerist über eine daraus folgende, wie er sagte, „beschissene Situation“, da der Mangel an Granaten die Soldaten zu unmöglichen Entscheidungen über Leben und Tod zwinge. „Amerikanische Patronen werden in Chargen mit fast identischem Gewicht geliefert, was es einfacher macht, das Feuer zu korrigieren, und nur sehr wenige Blindgänger verursacht. Jetzt haben wir Patronen und Granaten aus aller Welt mit unterschiedlichen Qualitäten und daher eine Menge mehr Blindgänger.“ 

Von europäischen Staaten hergestellte Munition wurde sehr häufig wegen ihrer Qualität kritisiert und zeitweise als nahezu nutzlos angesehen, wobei italienische Ausrüstung besonders für ihre schlechte Qualität berüchtigt war, im Gegensatz zu überlegener Ausrüstung, die entweder aus der Sowjetzeit stammt oder in den Vereinigten Staaten hergestellt wurde, beklagte sich „Danylo“ weiter. Anstatt auf die Russen zu schießen, sobald diese in Reichweite kamen, musste das ukrainische Personal zunehmend warten, um sicherzustellen, dass die Russen ihre Stellungen zielgerichtet ansteuerten, und nur große Gruppen angreifen. „Wenn es zwei oder drei russische Soldaten sind, schieße ich nicht mehr. Nur wenn es eine kritische Situation ist – sagen wir, zehn Männer in der Nähe unserer Infanterie – werden wir aktiv. Wenn unsere Geschosse nicht das gleiche Gewicht haben, fliegt die nächste Salve möglicherweise 200 Meter an den Russen vorbei. Und dann ist es zu spät“, sagte „Danylo“ der Washington Post

Kriegswirtschaft: Experten finden die Unfähigkeit der westlichen Rüstungsindustrie „peinlich“

Inzwischen ist ein neuer Lieferant aufgetreten: Südkorea hat der Washington Post zufolge der Ukraine 330.000 Schuss Artilleriegranaten geliefert. Im Gegensatz dazu sind die russischen Streitkräfte scheinbar immer besser ausgerüstet, wobei insbesondere die Bestände an ballistischen Raketen deutliche Anzeichen dafür zeigen, dass sie in den letzten eineinhalb Jahren erheblich gewachsen sind, was den verstärkten Angriff auf ukrainische Stellungen ermöglicht und die Gegenoffensive erstickt. Das hat auch der österreichische Oberst und Analyst Markus Reisner gegenüber der Tagesschau so gesehen: „Die russische Kriegsindustrie ist trotz elf Sanktionspaketen immer mehr in der Lage, sich anzupassen. Und Russland ist nicht isoliert, sondern hat genug Unterstützung aus dem Globalen Süden, um diesen Krieg länger führen zu können.“

Reisner zufolge lässt die Umstellung Europas auf Kriegswirtschaft auf sich warten – daran ändert vorerst auch nichts, was die Europäische Union vor fast einem dreiviertel Jahr beschlossen hat – die Ukraine weiter aufzumunitionieren: Im März hatte sich der Rat geeinigt auf einen dreigleisigen Ansatz, in dessen Rahmen der Ukraine in den nächsten zwölf Monaten in gemeinsamer Anstrengung eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung gestellt werden sollen. Der Rat kam überein, der Ukraine aus Lagerbeständen oder durch Neufestlegung der Prioritäten bei bestehenden Aufträgen dringend Boden-Boden- und Artilleriemunition sowie, falls darum ersucht wird, Flugkörper zu liefern.

Außerdem forderte er die Mitgliedstaaten auf, gemeinsam Munition und, falls angefordert, Flugkörper von der europäischen Verteidigungsindustrie und Norwegen zu beschaffen. Die Beschaffung würde im Rahmen eines von der Europäischen Verteidigungsagentur koordinierten bestehenden Projekts oder ergänzender, von den Mitgliedstaaten geleiteter Beschaffungsprojekte erfolgen, damit die Bestände der Mitgliedstaaten wieder aufgefüllt werden, während die Ukraine weiter unterstützt wird. Die ukrainischen Artillerieeinheiten sind inzwischen gezwungen, ihren Munitionsverbrauch um bis zu 90 Prozent zu drosseln. 

Zur Sturm- und Drangphase der ukrainischen Gegenoffensive waren das bis zu 200 Schuss pro Tag und Geschütz. Ein Wert, der Mut gemacht und den Russen Respekt eingeflößt hat. Aber ihre Schlagkraft hatten die Nato-Armeen im Verlauf des Kalten Krieges verloren – darunter auch die Bundeswehr. Der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel hatte den eklatanten Mangel an Munition bereits 2020 in seinem Buch „Deutsche Krieger“ analysiert. Ihm zufolgte sollte man nun „ernsthaft“ militärische Handlungsfähigkeit anstreben oder sich zur Rolle einer Zivilmacht bekennen. Letzteres sei immerhin ehrlich und konsequent. Denn, so Neitzel für „den Kampf gegen einen hochgerüsteten Gegner hat die Bundeswehr nach wie vor noch nicht einmal genug Munition“.

Auch Analyst Nico Lange hatte zuletzt den Respekt vor den Nato-Partnern öffentlich zurückgenommen, wie er der ehemalige Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung im ZDF geäußert hat: „Ich finde es fast schon peinlich, dass die führenden Industrienationen in Europa nicht in der Lage sind, die Kapazitäten wirklich zu erhöhen und zum Beispiel mehr Artillerie-Munition herzustellen als ein von Sanktionen belegtes und wirtschaftlich doch rückständiges Russland.“ Lange hatte diese Krise in der Ukraine heraufziehen sehen.

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