Minderwertige Granaten: Viele Artilleristen Putins sterben durch ihre eigenen Kanonen
Putins neuer „Hoflieferant“ bringt Soldaten wohl Probleme: Nordkorea-Granaten bergen enorme Gefahr
Die Rohre ausgeleiert, die Munition minderwertig: Russlands Kanonieren fliegen ihre eigenen Geschütze um die Ohren. Schuld ist womöglich Kim Jong-un.
Moskau – Russlands Artilleristen fürchten im Ukraine-Krieg nicht nur den Einschlag fremder Granaten, sondern vielmehr den Abschuss der eigenen – und den Tod durch eigenes Feuer. Mittlerweile fliegen ihnen nämlich verstärkt ihre eigenen Geschütze um die Ohren. Verschiedenen Medienberichten zufolge explodieren immer häufiger Artilleriegranaten in den Geschützrohren.
Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un ist der fleißigste Verbündete von Diktator Wladimir Putin und dessen unerschöpflicher Quell von Munition – allerdings soll die gelieferte Ware das Pulver nicht wert sein, wie beispielsweise DefenseExpress jüngst berichtet hat: Die russischen Artilleristen beschweren sich beispielsweise über die „systematische Streuung in der Reichweite“ ihrer Granaten. Das heißt: Die Geschosse irrlichtern durch die Luft, was dazu führt, dass mehr Munition für die Erfüllung einer typischen Aufgabe aufgewendet werden muss. Und die scheint in Hülle und Fülle nachzukommen.
Krieg in der Ukraine: Russland erhält zunehmend Munition aus Nordkorea
Der britische Thinktank Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) spricht mittlerweile von einem rollenden Orient Express: „Dutzende hochauflösender Satellitenbilder aus den vergangenen Monaten legen offen, dass Russland begonnen hat, in beträchtlichem Umfang Munition aus Nordkorea zu transportieren. Das bedeutet die Öffnung einer neuen Nachschub-Linie mit erheblichen Konsequenzen auf den Ukraine-Krieg und die internationale Sicherheit in Ost-Asien.“ Grundlage dieser Behauptungen waren aus Geheimdienstunterlagen veröffentlichte Satellitenbilder – darauf wollen amerikanische Analysten Container mit militärischer Konterbande ausgemacht haben. Im November war in verschiedenen Medien sogar explizit berichtet worden, Nordkorea wolle Russland mit einer Million Granaten aufmunitionieren.
Das scheint das Mindeste zu sein, was gebraucht wird. Als Folge wertloser Munition führt der höhere Verbrauch zu einem schnelleren Waffenverschleiß, was die Präzision des Geschosses noch weiter verringert und den Munitionsverbrauch noch weiter erhöht. Ein größerer Aufwand zum Erzielen von Wirkung bedeutet darüber hinaus aber auch eine längere Zeit zum Einschießen, und ein längeres Verbleiben in derselben Stellung setzt die Artilleristen der Gefahr eines Gegenschlages aus. Um genauer zu schießen, müssten die Russen eventuell näher an ihre Gegner heranrücken, was für die eine willkommene Einladung wäre und für die Russen letztendlich das Todesurteil bedeuten könnte. Zeit bedeutet Leben in einer Feuerstellung, wie Jack Watling vom RUSI am Beispiel der russischen Artillerie erklärt.
Selbst verschuldete Verluste: Russische Granaten für eigene Besatzungen tödlich
Seiner Expertise nach hätten die Russen inzwischen die Fähigkeit entwickelt, ukrainische Artilleriestellungen innerhalb von nur zwei Minuten nach deren erstem Schuss mit Gegenfeuer zu belegen. Vorher hatten die russischen Soldaten fünf bis 20 Minuten zum Gegenschlag benötigt. Offenbar ist dies nicht durch Einführung neuer Systeme geschehen, sondern alleine deswegen gelungen, weil die Russen den Prozessablauf verschlankt hätten, indem den schießenden Artilleriekräften direkter Zugriff auf die dafür notwendigen Zielortungsfähigkeiten ermöglicht wurde.
Watling: „Diese Entwicklung zeigt, wie wichtig der mobil geführte Einsatz (Shoot & Scoot) der eigenen Feuerunterstützung mittels Artillerie und Mörsern ist, damit diese im Gefecht überleben. Aus diesem Grund müssen die zukünftigen Artilleriesysteme dazu befähigt werden, die Verweildauer in der Feuerstellung, also die Dauer zwischen dem ersten Schuss und dem Verlassen der Feuerstellung, weiter zu verkürzen.“ Kurz gesagt: Mit minderwertigen Granaten aus alten Rohren verkürzen die russischen Artilleristen ihr Leben von allein.
DefenseExpress hatte bereits im Frühjahr 2023, also nach einem Jahr des Ukraine-Kriegs, über geplatzte Geschützrohre aufseiten der Russen geschrieben, also lange bevor ausländische Munition ins Land und an die Front geflossen war. Der Grund lag vermutlich im hohen Laufverschleiß. Darüber hinaus kommt es in abgenutzten Läufen zu Defekten, die dazu führen, dass Granaten explodieren, bevor sie das Geschütz verlassen. Dies ist ein umso erwartbareres Ergebnis, schreibt DefenseExpress, wenn man bedenkt, dass Russland Dutzende alter und verstaubter Waffen aus der Sowjetzeit aus Lagerhäusern holte, die ohne Dach und Pflege aufbewahrt wurden.
Renaissance der Kanone: Putin setzt auf totale Zerstörung der Ukraine
Das alte Eisen erlebt in der Ukraine eine unerwartete neue Blüte – die Artillerie spielt plötzlich wieder eine Schlüsselrolle auf den mehrere Hundert Kilometer langen Frontabschnitten, bilanziert die Neue Zürcher Zeitung: „Artillerie ist zudem die bevorzugte Waffe der Russen für ihren Vernichtungsfeldzug gegen dicht bewohnte Gebiete, der einem insbesondere in Mariupol in seinem ganzen Schrecken vor Augen geführt wird. Dieser scheint darauf abzuzielen, die für das Überleben der Bevölkerung notwendige Infrastruktur auszulöschen.“ Oder wie das deutsche Reservistenmagazin loyal schreibt: „So ist die Artillerie zurück als Königin der Schlachten. Eine Rolle, die sie in Europa seit den Feldzügen Napoleons innehatte, bis zum Ende des Kalten Krieges.“
Da sich Nordkorea jahrzehntelang für einen konventionellen Krieg gerüstet hat, trifft das dortige Überangebot die aktuelle russische Nachfrage. „Laut Analysten ist Russland vor allem an Artilleriemunition interessiert: Nordkorea verfügt über mit russischen Geschützen kompatible Granaten mit den Kalibern 152 mm und 122 mm“, schreibt Frederic Spohr für die Friedrich-Naumann-Stiftung. Kim Jong-un nutzt offensichtlich die Nähe zu Russland und China, um auch seine Position gegenüber dem von den USA unterstützten Südkorea zu festigen. Seine jetzigen Äußerungen bestätigen seinen bisherigen Konfrontationskurs und sind ein erneutes Spielen mit den Muskeln.
Masse statt Klasse: Kim Jong-uns Granaten töten eher den Freund anstatt den Feind
Erst im Juli demonstrierte Nordkoreas Machthaber öffentlichkeitswirksam seine Stärke. Er verspricht sich wirtschaftlichen Profit von dem Bündnis und eine dominierende Position in Korea. Zu dem Zeitpunkt hatte er zugleich angekündigt, die Waffenproduktion seiner Militärindustrie zu beschleunigen, wie der britische Guardian berichtete.
Offensichtlich hat Wladimir Putin mit der Ernennung Kims zum „Hoflieferanten“ den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, denn wahrscheinlich haben die minderwertigen nordkoreanischen Granaten die systematischen Probleme russischer Artilleriewaffen minderer Qualität verstärkt: Je weiter sie schießen müssen, desto schwieriger wird es für die Russen, mit ihren Geschützen umzugehen, denn abgenutzte Läufe und Munition mit geringer Präzision erfordern, dass die Truppen statistisch gesehen mehr Granaten abfeuern, um ein Ziel zu vernichten; dadurch aber werden die Läufe noch stärker abgenutzt werden. Dies führt zu einem Teufelskreis und einem Wettlauf zwischen Quantität und Qualität, der die Fähigkeit Russlands infrage stellt, schnell genug alte Waffen durch Waffen aus seinen Reserven zu ersetzen, um die Situation an der Front teilweise unter Kontrolle zu behalten.
Allerdings sind Verschleiß und Fahrlässigkeit kein exklusiv russisches Problem. Genauso wie die russischen Waffen gleich welches Alters und Zustands sind auch die westlichen Waffen lediglich Papiertiger ohne „Fronterfahrung“. Bereits im Juli vergangenen Jahres, relativ kurz nach Indienstnahme der deutschen Panzerhaubitze 2000 in der Ukraine, zeigte das deutsche Renommierstück erste Macken, wie berichtet wurde. Nach intensivem Beschuss sollen die Geschütze Fehlermeldungen angezeigt haben. Die Bundeswehr ging nach Informationen des Spiegels davon aus, dass die Probleme zusammenhingen mit der hohen Feuergeschwindigkeit, mit der die ukrainischen Streitkräfte die Geschütze beim Kampf gegen die russischen Invasoren einsetzen; der Lademechanismus der Haubitze werde dadurch enorm belastet. Bei der deutschen Truppe gelten bereits 100 Schuss pro Tag als hochintensiver Einsatz. Die Ukrainer schossen offenbar erheblich mehr Granaten ab.
Auch der Spiegel berichtet davon, dass die Russen inzwischen alles verballern, was sie noch im Bestand haben und die Quote an Versagern entsprechend steige. Das Nachrichtenmagazin bezieht sich auf nicht nachprüfbare Aussagen eines anonymen Insiders, der von teilweise 40 Jahre alter Munition auf dem Schlachtfeld spricht – mit einem hohen Stressfaktor für die Geschützbesatzungen. „Mit anderen Worten, man lädt die Munition, drückt die Daumen und hofft, dass sie abgefeuert werden kann oder dass sie beim Aufschlag explodiert.“ (Karsten Hinzmann)